Zwei Nobel-Preisträger über Chile. Auch das ist Geschichte! Nicht nur das, was alt... und vergessen ist:

Das Ende der Freiheit
Der ganz andere 11. September. Zwei Literaturnobelpreisträger über den US- Staatsterrorismus in Chile
Klaus Huhn

Eine Nachricht sorgte unlängst in Chile für Schlagzeilen. In Deutschland lieferte sie nur dürftige Meldungen: Ein Gericht in Santiago de Chile hatte am 30. Juni 2008 Manuel Contreras zu zweimal lebenslanger Haft verurteilt, nachdem er in vorangegangenen Prozessen bereits zu mehr als 200 Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Der chilenische Justizminister nannte das Urteil einen wichtigen Erfolg für die Gerechtigkeit.

Der Mord, für den man Contreras verurteilte, war auf seine Weisung vor 34 Jahren verübt worden, und zwar in Argentinien: Der 1973 nach der Ermordung von Chiles Präsident Salvador Allende nach Buenos Aires geflohene frühere chilenische Armeechef Carlos Prats und seine Frau waren dort 1974 durch eine Autobombe getötet worden.

Aber auch die rund 260 Jahre Haft für Contreras haben in Chile kaum Illusionen darüber aufkommen lassen, daß der Geheimdienstchef im Grunde nur ein Befehlsempfänger des Weißen Hauses in Washington gewesen war. Wenn heute irgendwo das Datum des 11. September erwähnt wird, meint die Welt vornehmlich die Ereignisse des Jahres 2001 in New York. Der Terroranschlag auf die Twin Towers in Manhattan hatte 3015 Menschen das Leben gekostet.

Die Zahl der Todesopfer, die dem Terroranschlag Washingtons in Chile zum Opfer fielen, konnte bis heute nicht exakt ermittelt werden. Sie schwankt zwischen 5.000 und 30.000 (Amnesty International). 20.000 Chilenen entkamen dem Tod nur, weil sie ins Ausland flohen, wie die heutige Präsidentin Michelle Bachelet, die als Tochter eines Allende-treuen und nach furchtbarer Folter verstorbenen Luftwaffengenerals über Australien in die DDR geflohen war, wo sie ein Medizinstudium absolvierte.

Allein wegen der identischen Tagesdaten werden oft oberflächliche Vergleiche zwischen beiden Massenmorden angestellt. Der gravierende Unterschied besteht darin, daß es sich in New York um den Mordanschlag einer fanatischen Terrororbande handelte (wenn man die offizielle Lesart der Ereignisse akzeptiert, was bei allen bislang aufgetauchten offenen Fragen und Widersprüchen schwerfällt), während es sich in Chile um einen unverdeckten Akt des von den USA initiierten Staatsterrorismus handelte.

Mein Beitrag verzichtet auf solchen Vergleich und versucht darzulegen, welches Echo der Putsch in Chile in der Weltliteratur fand und wie er das »Weltgemüt« bewegte.

Nerudas Anklage

Der durch unvergängliche Werke berühmt gewordene chilenische Dichter Pablo Neruda war 1971 mit dem Literaturnobelpreis »für eine Poesie, die mit Wirkung einer Naturkraft Schicksal und Träume eines Kontinents lebendig macht« geehrt worden. Er war ein Freund des am 11. September 1973 ermordeten chilenischen Präsidenten Allende gewesen und überlebte ihn nur um zwölf Tage. Die Worte, die der krebskranke Dichter auf dem Sterbebett seinen Memoiren noch hinzufügte sind eine unauslöschliche Anklage der Mörder: »Mein Volk ist das am meisten betrogene dieser Zeit gewesen. In den Salpeterwüsten, in den unterseeischen Kohlebergwerken, auf den schrecklichen Höhen, wo das Kupfer liegt, das die Hände meines Volkes in unmenschlicher Arbeit förderten, entstand eine Befreiungsbewegung von grandiosem Ausmaß. Diese Bewegung legte die Präsidentschaft Chiles in die Hände eines Mannes mit Namen Salvador Allende, damit dieser dringlichste Reformen und Maßnahmen der Gerechtigkeit durchführe, damit er unseren nationalen Reichtum ausländischen Klauen entreiße.

Wo immer ich war, auch in den fernsten Ländern, bewunderten die Völker den Präsidenten Allende und rühmten den außerordentlichen Pluralismus unserer Regierung. Seit dem Bestehen der Vereinten Nationen war in New York nie eine solche Ovation gehört worden, wie die Abgeordneten der ganzen Welt sie dem Präsidenten Chiles darbrachten. Hier, in Chile, wurde unter ungeheuren Schwierigkeiten eine wahrhaft gerechte Gesellschaftsordnung aufgebaut, errichtet auf der Grundlage unserer Souveränität, unseres Nationalstolzes, des Heldentums der besten Einwohner Chiles. Auf unserer Seite, auf der Seite der chilenischen Revolution, waren die Verfassung und das Gesetz, die Demokratie und die Hoffnung. ...

Chile hat eine lange Geschichte mit wenigen Revolutionen und vielen beständigen Regierungen, konservativen und mittelmäßigen und nur zwei großen Präsidenten: Balmaceda (1840–1891, war von 1886 bis 1891 Präsident von Chile – d. Red.) und Allende. Es ist merkwürdig, daß beide dem gleichen Milieu entstammten, dem wohlhabenden Bürgertum, das sich hierzulande Aristokratie nennen läßt. Als Männer von Grundsätzen entschlossen sie sich, ein von der mittelmäßigen Oligarchie herabgesetztes Land groß zu machen und kamen beide auf gleiche Weise zu Tode. Balmaceda wurde zum Selbstmord getrieben, weil er sich weigerte, den Salpeterreichtum den ausländischen Gesellschaften auszuliefern.

Allende wurde ermordet, weil er den anderen Reichtum des chilenischen Bodens, das Kupfer, nationalisiert hatte. In beiden Fällen hatte die chilenische Oligarchie blutige Revolutionen angestiftet. In beiden Fällen hatten die Militärs die Meute gestellt. Bei Balmaceda waren es die englischen, bei Allende die nordamerikanischen Gesellschaften, die diese Militärbewegungen förderten und unterstützten.

In beiden Fällen wurden die Häuser der Präsidenten auf Befehl unserer distinguierten ›Aristokraten‹ geplündert. Balmacedas Salons wurden mit Axthieben zerstört. Allendes Haus wurde dank dem Fortschritt der Welt von unseren heldenhaften Fliegern aus der Luft bombardiert. ...

Allendes Werke und Taten von unauslöschlichem nationalen Wert erzürnten die Feinde unserer Befreiung. Den tragischen Symbolgehalt dieser Krise offenbart die Bombardierung des Regierungspalastes; sie erinnert an den Blitzkrieg der Naziluftwaffe gegen schutzlose ausländische Städte, spanische, englische, russische. Nun geschah das gleiche Verbrechen in Chile; chilenische Piloten griffen im Sturzflug den Palast an, der zwei Jahrhunderte lang der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens des Landes gewesen war.

Ich schreibe diese raschen Zeilen für meine Memoiren drei Tage nach den empörenden Ereignissen, die zum Tod meines großen Gefährten, des Präsidenten Allende, führten. Seine Ermordung wurde vertuscht; er wurde heimlich begraben; nur seine Witwe durfte den unsterblichen Toten begleiten. Die Version der Angreifer lautete: Sein Leichnam wurde mit sichtlichen Zeichen des Selbstmords gefunden. Die im Ausland veröffentlichte Fassung lautete anders. Gleich nach dem Luftbombardement traten Panzerwagen in Aktion, viele Panzerwagen, um furchtlos gegen einen einzigen Mann zu kämpfen: den Präsidenten der Republik Chile, Salvador Allende, der sie in seinem Arbeitszimmer erwartete, ohne weitere Gesellschaft als sein großes Herz, umgeben von Rauch und Flammen.

Sie mußten eine so schöne Gelegenheit nutzen. Sie mußten ihn mit Maschinengewehrfeuer niedermähen, weil er nie seinen Posten aufgegeben hätte. Sein Leichnam wurde irgendwo heimlich beerdigt. Dieser Leichnam, der zur Beerdigung fuhr, begleitet von einer einzigen Frau, die allen Schmerz der Welt in sich trug, diese ruhmreiche tote Gestalt war durchlöchert und zerfetzt von den Kugeln der Maschinengewehre der Soldaten Chiles, die Chile wieder einmal verraten hatten.«

García Márquez' Bilanz

Der kolumbianische Dichter Gabriel García Márquez – 1982 für seinen weltweit in 30 Millionen Exemplaren verbreiteten Roman »Hundert Jahre Einsamkeit« mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet – hatte im April 1974, also nur sieben Monate nach dem Mord an Allende, im Londoner New Statesman eine Betrachtung mit dem Titel »Warum Allende sterben mußte« veröffentlicht, den das damals in der DDR erscheinende Forum (8/74) in der Übersetzung von Erich Henschke veröffentlicht hatte:

»Drei Generäle des Pentagons dinierten in den letzten Wochen des Jahres 1969 mit fünf chilenischen Offizieren in einem Luxus-Haus; es befand sich in einem Vorort von Washington. Gastgeber war Leutnant Colonel Gerardo López Angulo –stellvertretender LuftwaffenAttaché der Militärmission Chiles in den Vereinigten Staaten. Die chilenischen Gäste waren seine Partner anderer Waffengattungen. Das Essen wurde zu Ehren des neuen Direktors der LuftwaffenAkademie Chiles, General Carlos Toro Mazote, gegeben; er war einen Tag zuvor mit einer Studienkommission in den USA eingetroffen. ... Die acht hohen Offiziere führten ihre Gespräche meist in Englisch, und es schien sie nur ein Thema zu interessieren: die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Chile im September (1970 – d. Red.). Beim Nachtisch fragte einer der Pentagon-Generäle, wie sich die chilenische Armee verhalten würde, wenn der Kandidat der Linken, Salvador Allende, gewählt wird. General Toro Mazote gab hierauf folgende Antwort: ›Innerhalb einer halben Stunde werden wir den MonedaPalast stürmen, und falls es notwendig sein sollte, werden wir ihn in Feuer aufgehen lassen.‹

Unter den Gästen befand sich auch General Ernesto Baeza, heute Direktor für Nationale Sicherheit in Chile. Während des Putsches im vergangenen September führte er den Angriff auf den Präsidentenpalast und gab den Befehl, ihn eventuell niederzubrennen. Zwei seiner Untergebenen aus den früheren Tagen sollten in dieser militärischen Operation ebenfalls in Aktion treten: General Augusto Pinochet, der Kopf der jetzt herrschenden Militärjunta, und General Javier Palacios. ...

Es zeigte sich bald, daß dieses Dinner zu einer historischen Zusammenkunft zwischen dem Pentagon und hohen Offizieren der chilenischen Armee werden sollte. ... Auf der nordamerikanischen Seite wurde die Defence Intelligence Agency des Pentagon in Bewegung gesetzt; jedoch der unmittelbare Auftrag ging an die Naval Intelligence Agency unter übergeordneter politischer Leitung durch die CIA und den Nationalen Sicherheitsrat. ...

Während dieser Periode lag bereits ein vollständiger, zusammenhängender Plan vor, der bis zu den letzten Einzelheiten ausgearbeitet war. Es ist unmöglich, daß Kissinger oder Präsident Nixon keine Kenntnis davon hatten. ...

Im September 1970 wurde – wie vorauszusehen – der Sozialist und Arzt Salvador Allende, zum Präsidenten der Republik gewählt. Jedoch der vorgesehene Plan wurde noch nicht in Kraft gesetzt! Die am häufigsten verbreitete Erklärung dafür ist die lächerlichste. Irgend jemand beging im Pentagon einen Fehler und forderte 200 Visen für einen ›Flottenchor‹ an, der in Wirklichkeit aus Spezialisten zum Sturz einer Regierung bestehen sollte. In diesem ›Chor‹ waren jedoch mehrere Admirale, die nicht einmal eine Note singen konnten.

Der entscheidende Grund liegt woanders: Andere US-Geheimdienste, vor allem die CIA, vertraten wie auch der US-Botschafter in Chile, die Auffassung, daß der vorgesehene Plan zu strikt und einseitig auf militärische Operationen festgelegt sei und daher ungenügend die gegenwärtigen politischen und sozialen Strömungen in Chile in Betracht ziehe.

Tatsächlich hatte der Sieg der Volkseinheit (UP) nicht die soziale Panik hervorgerufen, mit der der US-Geheimdienst gerechnet hatte. Die Unabhängigkeit der neuen Regierung in internationalen Angelegenheiten und ihre Entschlossenheit, in wirtschaftlichen Fragen schafften ganz im Gegenteil umgehend eine Atmosphäre freudiger Zustimmung. Während des ersten Jahres wurden 47 industrielle Unternehmen, wie auch die meisten Großbanken, verstaatlicht. Die Agrarreform sah die Überführung von rund sechs Millionen Morgen Land, das bisher in den Händen von Großgrundbesitzern lag, in gesellschaftliches Eigentum vor. Der inflationäre Prozeß wurde verlangsamt, Vollbeschäftigung erreicht und der Lohn um rund 30 Prozent erhöht. … Die USA wollten keinen Präzedenzfall für friedlichen Fortschritt und soziale Veränderung zulassen. Nun schlossen sich alle Kräfte der inneren und äußeren Reaktion zu einem kompakten Block zusammen. …

Die letzte Maßnahme war in ihrer Perfektion sinnestäuschend: 48 Stunden vor dem Putsch brachte es die Opposition fertig, alle hohen Offiziere, die Allende unterstützten, für untauglich zu erklären, an ihrer Stelle alle jene Offiziere zu befördern, die an dem erwähnten Dinner in Washington teilgenommen hatten. … Tatsächlich mußte die Militärjunta sechs Plätze in der Liste der Rangältesten überspringen, bevor sie einen hohen Offizier fand, der bereit war, den Militärputsch zu unterstützen. … Kommandeure wurden gnadenlos niedergemetzelt, um den Truppen eine Lehre zu erteilen. Es dürfte wohl noch einige Zeit dauern, bevor die Zahl der Opfer dieser internen Schlächterei bekannt sein wird. Die Leichen wurden von den Militärkommandos in Müllabfuhrwagen entfernt und verscharrt. Insgesamt konnten sich die Putschisten wahrscheinlich auf rund 50 höhere Offiziere verlassen, deren Gruppen schon vorher ›gesäubert‹ wurden. ...

Die Geschichte dieser Intrige setzt sich aus verschiedenen Quellen zusammen – nicht alle sind zuverlässig. Es kann jedoch nicht bezweifelt werden, daß eine Gruppe von ausländischen Agenten unmittelbar am Umsturz teilgenommen hat. Geheime Quellen in Chile behaupten, daß die mit technischer Präzision erfolgte Bombardierung des Moneda-Palastes von einer Gruppe amerikanischer ›Luftakrobaten‹ durchgeführt wurde, die unter dem Vorwand von Vorführungen zum ›Tag der Nationalen Unabhängigkeit‹ angereist war. …

Es war kein konventioneller Kasernenputsch, sondern die vernichtende Operation eines Krieges. … Ein Drama fand in Chile statt. Die tragischen Ereignisse werden in die Geschichte unseres Zeitalters eingehen und aus dem Bewußtsein der Menschen nicht mehr wegzudenken sein.«

Undercover in Chile

Gabriel García Márquez befaßte sich acht Jahre später noch einmal mit dem Thema Chile und schrieb das großes Aufsehen erregende Buch »Das Abenteuer des Miguel Littin«, das 1988 auch in der DDR erschienen ist. Littin war einer der erfolgreichsten chilenischen Filmemacher, der gleich nach der Ermordung Allendes nach Mexiko floh und im Herbst 1984 den Plan faßte, einen Dokumentarfilm über Chile unter Pinochet zu drehen. Er formierte drei Filmteams, eines aus den Niederlanden, eines aus Frankreich und eines aus Italien. Er selbst veränderte sein Aussehen so gründlich, daß niemand ihn wiedererkannte, trainierte sich sogar einen anderen Gang an und schlüpfte in die Identität eines Werbeexperten aus Uruguay. Am Ende seines tollkühnen Unternehmens verfügte er über 32 000 Meter Filmmaterial, aus denen er einen vierstündigen Fernsehfilm und eine zweistündige Kinofilmfassung produzierte.

Márquez begegnete Littin in Madrid und war so begeistert von dessen Wagemut, daß er ihn eine Woche lang interviewte und die Gespräche in 18 Stunden Tonbandaufzeichnungen zusammentrug und danach das Buch schrieb, das ein Welterfolg wurde. (Im Text steht das »ich« für Miguel Littin):

»Ich wollte die Dreharbeiten im Valle Central persönlich durchführen, da ich in dieser Gegend geboren bin und dort meine Jugend verbracht habe. ... Meine Mutter lebt dort noch in dem armen Dörfchen Palmilla, aber man hatte mich, hauptsächlich aus Sicherheitsgründen, nachdrücklich vor dem Versuch gewarnt, sie während dieser Reise zu besuchen. ... Als wir gegen Abend mit der Arbeit aufhörten, ... sagte ich Ricardo, er solle nach links abbiegen und über die Brücke fahren, ... am Ende ... hielten wir vor dem Haus meiner Mutter. ... Ich ging auf sie zu, ... ›Du mußt ein Freund von meinen Söhnen sein‹, sagte sie. ›Laß dich umarmen.‹... Selbst als sie aufstand, um mich zu umarmen, hatte sie mich noch nicht wiedererkannt. ... ›Nein‹, sagte sie, ›ich weiß nicht, wer du bist.‹ ›Aber natürlich kennst du mich‹, antwortete ich, halb tot vor Lachen. ›Ich bin dein Sohn Miguel‹ ...«

Littin hatte mit seinen Teams auch das Grab Allendes und das Haus Nerudas besucht.

»Von Anfang an hatte Pinochet erklärt, er werde so lange an der Macht bleiben, bis in den Köpfen der folgenden Generationen auch die geringste Spur des demokratischen Systems getilgt sei. Er hätte sich nicht träumen lassen, daß seine eigene Regierung Opfer dieser Ausrottungsstrategie werden könnte. ... Der Name von Salvador Allende hält die Vergangenheit wach, und der Kult um sein Andenken erreicht in den poblaciones (den Armenvierteln – d. Red.) mythische Ausmaße. ... Während unserer langen Fahrt durch das Land kamen wir in keinen Ort, in dem sich nicht eine Spur von Allende fand. ... Es ist merkwürdig, daß die Militärdiktatur Allende in Valparaiso begraben hat, wo er zweifellos hätte begraben werden wollen. Insgeheim und ohne irgendwelche Zeremonien hatte man seinen Leichnam in der Nacht vom 11. September 1973 dorthin gebracht, in einem einfachen Propellerflugzeug der Luftstreitkräfte, durch dessen Ritzen die eisigen Südwinde drangen; nur seine Frau Hortensia Bussi und seine Schwester Laura begleiteten ihn. ... Sie begruben ihn auf dem Friedhof Santa Inés, im Familienmausoleum des Marmaduque Grove, ohne weiteren Schmuck als einen Strauß Blumen, den seine Frau dort niederlegte. ... Das Grab ist heute das Ziel dauernder Wallfahrten, und es ist immer mit Blumen geschmückt, die von unsichtbaren Händen dort niedergelegt werden. Um dies zu unterbinden, ließ die Regierung verbreiten, der Leichnam sei an eine andere Stelle umgebettet worden, aber nach wie vor sind frische Blumen auf dem Grab. ...

Und auch der Kult um Pablo Neruda und sein Haus am Meer in Isla Negra ist in der jungen Generation weiterhin lebendig. ... Auf einem Schild steht, daß das Haus von der Polizei versiegelt wurde und daß der Zutritt und das Fotografieren verboten sind. Der Carabinero, der dort in gewissen Zeitabständen seine Runden drehte, wurde noch deutlicher: ›Hier ist alles verboten.‹ Da wir auch das schon wußten, bevor wir angekommen waren, hatte der italienische Kameramann eine voluminöse, gut sichtbare Ausrüstung mit dem Hintergedanken mitgebracht, diese von dem Posten beschlagnahmen zu lassen, weil er außerdem versteckt eine weitere, tragbare Kamera dabei hatte. Zusätzlich hatte sich das Team auf drei Autos verteilt, damit die Filmrollen, sobald sie fertig waren, nach Santiago geschafft werden konnten und wir, falls wir überrascht würden, lediglich das Material verlören, das die jeweilige Gruppe bei sich hatte.«

Die Nichte Allendes, Isabel, war während der Regentschaft ihres Onkels eine renommierte Journalistin und Fernsehmoderatorin in Santiago de Chile, floh später nach Venezuela und von dort in die USA, wo sie deren Staatsbürgerschaft annahm. In ihrem berühmt gewordenen Roman »Das Geisterhaus« beschreibt sie das Begräbnis Nerudas als »das symbolische Begräbnis der Freiheit«. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau (4.9.2003) griff sie dieses Bild auf und antwortete auf die Frage: »Was empfanden Sie für Ihren Onkel?«: »Ich habe mich oft mit ihm getroffen. Er stand meiner Mutter sehr nahe, und für mich war er immer der liebenswürdige Onkel. Kurz vor dem Putsch hatten wir noch mit ihm gegessen. Er ahnte, daß ein Staatsstreich bevorstand. Uns sagte er: ›Ich werde La Moneda nur tot verlassen.‹ So kam es dann auch. Ich habe ihn verehrt. Sein Tod war für mich das Ende der Freiheit.«

Klaus Huhn lebt als Journalist und Verleger in Berlin

Mit freundlicher Erlaubnis der jungen Welt / 11.9.08