Aufbruch in die Demokratie: Weimar
Vor 90 Jahren wurde in Weimar die deutsche Nationalversammlung eröffnet - 6.2.1919

Von Hans Mommsen

In der Reihe der Epochendaten, die das öffentliche Bewußtsein in der Bundesrepublik beschäftigen, bewegen sich die Gründungsdaten der Weimarer Republik in der zweiten Reihe. Ihre Ausrufung am 9. November 1919 tritt gegenüber den schicksalsschweren Nachfolgeereignissen des 9. November 1923 und des 9. November 1938 zurück, obwohl die beiden letzteren sich auf erstere bezogen und den Zusammenhang mit der als nationales Verhängnis beschriebenen "Deutschen Revolution" unterstreichen. Dem 9. November 1938 verlieh der Berliner Volksmund den Namen der "Reichskristallnacht", da Goebbels anderes als den klanglosen Begriff der "Judenaktion" verbot.

Das Gedächtnis daran tendiert dazu, den ersten 9. November im landläufigen Geschichtsbild zu überdecken. Selbst die SPD neigt dazu, die Gründung der Weimarer Republik und den Zusammentritt der Deutschen Nationalversammlung in Weimar nicht mehr zu den zentralen Wendepunkten ihrer Geschichte zu zählen. Sie scheint der von einigen populären deutschen Zeithistorikern unterstützten Tendenz anheim zu fallen, die Demokratiegründung von Weimar als "verunglückt" zu betrachten und ihr den hellen Stern der "geglückten Demokratie" der BundesrepublikDie Weimarer Reichsverfassung entgegenzuhalten.

Um so mehr ist der Versuch der Stadt Weimar zu begrüßen, den Zusammentritt der Deutschen Nationalversammlung vom 6. Februar 1919, in dem die lokale mit der nationalen Geschichte zusammenfiel, öffentlich bewußt zu machen und als grundlegenden Baustein für den Aufbau des ersten demokratischen Staatswesens in Deutschland zu feiern. Mit einer umfassenden historischen Ausstellung, öffentlichen Diskussionen und Vorträgen wird der Versuch gemacht, jene in der heutigen Bundesrepublik üblich gewordene rückwärts gewandte Perspektive auf die Ereignisse der Novemberrevolution umzukehren und sie auch als Symbol eines trotz aller inneren und äußeren Hindernisse erreichten demokratischen Aufbruchs zu erblicken.

Ganz sind die Versuche in Weimar nicht gelungen, die Parteien zu einem historisch vermittelten Akkord gerade im Blick auf Parteienstreit und Bürgerkrieg in der Gründungsphase der Republik zu bewegen und ein wenig von der trotz allem gegebenen Gemeinsamkeit und Zuversicht der damaligen Akteure wiederzubeleben, die, was die gegenwärtige bundesrepublikanische Politik angeht, eher im Positionsstreit verloren zu gehen scheinen.

Es spricht daher einiges dafür, das Jubiläumsdatum des 6. Februar - die Geburtsstunde der Weimarer Republik - nicht primär mit einer kritischen Analyse ihres Scheiterns zu würdigen, sondern vielmehr nach ihren unter schwierigen ökonomischen, sozialen und außenpolitischen Bedingungen, nämlich trotz der der Rechten wie der Linken anzulastenden Bürgerkriegssituation erreichten unbestreitbaren Leistungen zu fragen. Dabei ergibt sich, daß die Weimarer Republik im innerkontinentaleuropäischen Vergleich mit den Pariser Nachfolgestaaten keineswegs schlecht abgeschnitten hat. Denn der Zusammenbruch der verfassungsmäßigen Grundlagen erfolgte erst vergleichsweise spät und zum wenigsten wegen des Versagens der republikanischen Parteien.

Der Blick auf das Scheitern der Republik verdeckt allzu leicht deren Verdienste, die bis in die Bundesrepublik fortwirken und heute weithin für selbstverständlich gehalten werden. Die Einführung eines unitarischen Steuersystems durch Matthias Erzberger gehört dazu, desgleichen die Schaffung des bis heute weithin gültigen sozialpolitischen Instrumentariums und nicht zuletzt das System der Arbeitslosenversicherung, auch wenn dieses nach 1930 den extremen Belastungen der durch die Deflationspolitik Brünings zusätzlich verschärfen Finanzkrise nicht standhielt. Im Bereich der Kommunalpolitik, des Städtebaus der öffentlichen Architektur, des sozialen Wohnungsbaus, aber auch in der Schul- und Hochschulpolitik hat die Republik bemerkenswerte Leistungen zu verzeichnen.

Das gilt auch für den Bereich der technologischen und industriellen Modernisierung, obwohl andererseits der durch eine verfehlte Subventions- und Steuerpolitik ermöglichte Ausbau der Schwerindustrie an der Ruhr zu einer faktischen Verdoppelung der Stahl- und Kohlekapazität im Vergleich zur Vorkriegszeit führte, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg, im Zuge der Montanunion, bereinigt werden konnte.

Denn diese primär aus national- und revisionspolitischen Motiven vollzogene Wirtschaftsförderung folgte der Illusion, zu den Absatzzahlen der Vorkriegszeit zurückkehren zu können, was, als dies nicht eintrat, zu einem massiven Druck auf die Löhne vor allem im Steinkohlebergbau führte.

Die daraus folgenden Bestrebungen der schwerindustriellen Unternehmerverbände, den sozialpolitischen Kompromiß von 1918/19 aufzukündigen, sollte dann maßgebend zur Auflösung des parlamentarischen Systems von Weimar beitragen.

In den Verfassungsdebatten des Parlamentarischen Rates von 1949 standen den Abgeordneten in erster Linie die angeblichen Mängel des Verfassungswerks von 1919 vor Augen, die zur Krise der Republik führen. An der Spitze rangierte der Vorwurf, daß die Reichsverfassung einem bloß formalistischen Demokratieverständnis erlegen und bedingungslos dem Prinzip der Mehrheitsherrschaft gefolgt sei - eine Argumentation, hinter der sich nicht selten die Angst vor einem "Absolutismus" parlamentarischer Mehrheiten verbarg. Bis in unsere Tage hält sich damit verknüpfte Vorstellung, die Republik sei durch den Extremismus von links und rechts erwürgt worden.

Diese Argumente hat jüngst Heinrich August Winkler in seiner zusammenfassenden Darstellung "Der lange Weg nach Westen" aufgegriffen. Die Weimarer Demokratie sei nicht nur durch die von vornherein gegnerisch eingestellten politischen Kräfte bedroht, sondern auch "so verfaßt" gewesen, "daß sie sich selbst aufheben konnte". Diese Auffassung übersieht, daß es angesichts des fehlenden Konsensus über Grundfragen des Verfassungslebens 1919 nur möglich war, die Verfassung als "offene politische Form" zu konzipieren, die Verfassungsänderungen bis hin zum Wechsel der Staatsform zuließ, sofern die erforderliche qualifizierte Mehrheit dafür vorhanden war.

Abgesehen davon, daß der Gedanke an verfassungsfeste Grundnormen von der zeitgenössischen Staatsrechtslehre übereinstimmend abgelehnt wurde, verkennt die Rede von der im Vergleich zu Weimar "streitbaren Demokratie" der Bonner bzw. Berliner Republik, daß es nach er Stabilisierung des Weimarer Systems seit 1920 immer wieder Bestrebungen gab, die Aushöhlung der republikanischen Ordnung durch Partei- und Organisationsverbote zu unterbinden, die sich zwar überwiegend gegen die extreme Linke, aber auch gegen die NSDAP und andere völkische Gruppierungen richtete. Das Eingreifen der preußischen Regierung gegen NSDAP und SA wurde jedoch zunehmend von den Reichskabinetten durchkreuzt, die in diesen ein nützliches Gegengewicht gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung sahen.

Desgleichen hat man das Verhältniswahlrecht für die Anfälligkeit des parlamentarischen Gustav StresemannRegierungssystems verantwortlich gemacht, obwohl der Anteil der kleineren Parteien 15 Prozent nicht überstieg. Die Ursache der chronischen Parlamentskrise, von der Gustav Stresemann sprach, beruhte jedoch auf der mangelnden Bereitschaft der bürgerlichen Mittelparteien, sich mit der SPD, ohne die eine Mehrheitsbildung nicht möglich war, konstruktiv zu arrangieren. Ein geändertes Wahlrecht hätte lediglich die Wirkung gehabt, die bürgerlichen Mittelparteien nach 1930 aus der parlamentarischen Mitverantwortung auszuschließen.

Die Krise des politischen Systems von Weimar ist daher nur begrenzt den Schwächen der Reichsverfassung zuzuschreiben, auch wenn es sich als fatal erwies, daß die vorgesehene Ausführungsverordnung zur Stellung des Reichspräsidenten auf Grund des Einspruches Paul von Hindenburgs unterblieb. Bei der Installation der Präsidialkabinette nach dem Juni 1930 handelt es sich eindeutig um eine Überdehnung der Vollmachten von Art. 48 WRV, die jedoch die Zustimmung selbst liberaler Verfassungsrechtler wie Gerhard Anschütz fanden. Die weitgehende Erledigung der laufenden Gesetzgebung bis auf die Ebene von Durchführungsverordnungen durch die Präsidialregierung hatte mit dem ursprünglichen Verfassungsauftrag nichts zu tun. Diese Praxis zielte zugleich darauf ab, die Stellung des Reichspräsidenten durch eine Beschränkung von Art. 54 WRV, damit der Bindung der Reichsregierung an die Reichstagsmehrheit, zu stärken und zu einem System "autoritärer Demokratie" zu gelangen.

Ohne die massive Unterstützung dieser Tendenz zum Verfassungsumbau und zur Abkehr vom parlamentarischen System durch die bürgerlichen Rechts- und Mittelparteien sowie durch einflußreiche Verbände und die Staatsrechtslehre wäre diese Entwicklung undenkbar gewesen. Andererseits wäre es verfehlt, den Übergang zur Diktatur in erster Linie auf den Einfluß des Präsidenten und des Präsidialbüros zurückzuführen, zumal Hindenburg nur auf Grund der Intrigen von Papens, der ihm die Schaffung einer Mehrheitskoalition durch die Einbeziehung der Zentrumspartei vorspiegelte, schweren Herzens Hitlers mit der Kanzlerschaft betraute, die den ersten Schritt zur Ablösung vom Präsidialregime zu bringen schien, an dessen Rechtmäßigkeit und Tragfähigkeit er selbst zu zweifeln begann. Die bürgerliche politische Rechte war, um eine Rückkehr zum parlamentarischen System zu verhindern, entschlossen, die anstehende Reichstagsauflösung und offene Neuwahlen selbst um den Preis eines Verfassungsbruchs zu verhindern.

Die Auflösung der 1919 so hoffnungsvoll gegründeten Republik von Weimar entsprang keiner inneren Zwangsläufigkeit, sondern dem mutwilligen Vabanquespiel von nur im Negativen einigen Interessenten im Lager der Rechten und der mit ihnen verknüpften Interessenverbände, die sich nicht scheuten, die politischen und psychologischen Folgen der Wirtschaftskrise für sich zu nutzen.

Zur Sache

Hans Mommsen war bis zu seiner Emeritierung 1996 Professor für Geschichte an der Universität Bochum und ist einer der bedeutendsten Historiker zur Zeit zwischen 1918 und 1945. Er wird neben Bundesjustizministerin Brigitte Zypries die heute beginnende Sonderausstellung in Weimar eröffnen. Die Weimarer Nationalversammlung trat erstmals am 6. Februar 1919 zusammen.

 FR-Fotostrecke: Weimar - Aufbruch in die Demokratie WRV 1919 - Offizielle Postkarte

Aus: Frankfurter Rundschau - 6.2.09

 

„Offizielle Postkarte“ der Nationalversammlung,
Poststempel vom 1. Juli 1919 in Weimar

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Nie vergessen:
“Weimar” war und bleibt ein positiver Anfang für die deutsche Demokratie. Mit schwerster Hypothek von Anfang an belastet.