Überlegungen zur Entstehung des „Freistaats Flaschenhals“ im Oktober/November 1918
Von Stephanie Zibell

Abschnitt V des am 11. November 1918 unterzeichneten Waffenstillstandsabkommens von Compiègne verlangte die Besetzung des linken Rheinufers und die Einrichtung von Brückenköpfen auf der rechten Rheinseite. Daraufhin wurde um die Städte Köln, Koblenz und Mainz ein Halbkreis mit einem Radius von 30 Kilometern geschlagen, und die Gebiete, die sich innerhalb dieses Halbkreises auf der rechten Rheinseite befanden, zur besetzten Zone erklärt. In die Kölner Zone marschierten die Briten ein, in die Koblenzer die Amerikaner und in die Mainzer die Franzosen. Jetzt hatten die Alliierten die Deutschen also unter Kontrolle. Es würde ihnen nicht gelingen, die Ressourcen des Rheinlands zu nutzen, um im Verborgenen wiederaufzurüsten und einen Revanchekrieg zu starten. Insofern war also alles in bester Ordnung. Doch der Schein trog, denn bei der Einrichtung der Brückenköpfe Mainz und Koblenz hatte es offenbar ein kleines „Mißgeschick“ gegeben!

Dabei handelte es sich um ein Stück unbesetztes Gebiet, das genau zwischen den Brückenköpfen Koblenz und Mainz lag. Da es optisch dem Hals einer (Wein-)Flasche ähnelte, wurde es als „Flaschenhals“ bezeichnet. Das „Territorium“ des „Flaschenhalses“ erstreckte sich entlang des Rheins vom Bodenthal bei Lorch bis zum Roßstein bei Kaub und dehnte sich in Richtung Taunus bis Laufenselden aus. Etwa 17.000 Menschen bevölkerten den „Flaschenhals“, der aus Fragmenten der Kreise Unterlahn, Untertaunus, St. Goarshausen und Rheingau bestand. Der „Flaschenhals“ entstand, weil sich die Halbkreise, die die Alliierten um Koblenz und Mainz geschlagen hatten, nicht überschnitten. Hätte es eine solche Überschneidung gegeben, wären die Brückenköpfe nahtlos ineinander übergegangen, und es hätte – zumindest entlang des Rheins und in dessen unmittelbarem Hinterland – kein unbesetztes Gebiet zwischen den beiden Rheinstädten gegeben. So aber lag ein schmaler Landstreifen – nämlich der „Flaschenhals“ – zwischen den Brückenköpfen.

Nun stellt sich die Frage: Wie konnte es dazu kommen? Handelte es sich um ein Versehen der Alliierten? Hatten die Verantwortlichen bei der Einrichtung der Brückenköpfe schlampig gearbeitet? In wessen Zuständigkeit war überhaupt die Schaffung des rechtsrheinischen Besatzungsgebiets gefallen?

Hierzu habe ich Folgendes in Erfahrung bringen können:
Der „Flaschenhals“ verdankt seine Entstehung dem Oberkommandierenden der alliierten Armeen, Marschall Ferdinand Foch. Nachdem der deutsche Reichskanzler Max von Baden in den frühen Morgenstunden des 4. Oktober 1918 an US-Präsident Woodrow Wilson telegrafiert und um die „Herstellung des Friedens“ [im Auftrag der OHL / Hindenburg; webmaster] gebeten hatte, erreichte die unerwartete Nachricht vom deutschen Friedenswunsch auch die Mitglieder des Alliierten Obersten Kriegsrats. Diese hatten sich soeben zu ihrem monatlichen Treffen in Paris eingefunden, um zwischen dem 5. und dem 9. Oktober 1918 das künftige politische und militärische Vorgehen der Alliierten gegen Deutschland und seine Verbündeten zu besprechen. Die neue Lage verlangte ein Abweichen von der ursprünglichen Tagesordnung. Statt über  die Situation auf dem Balkan mußte nun über die Bedingungen für die Herbeiführung eines Waffenstillstands gesprochen werden, der den ersten Schritt zu einem Friedensvertrag darstellte. Weil niemand mit dieser Entwicklung gerechnet hatte, gab es auch keine Pläne, die die Alliierten einfach aus der Schublade ziehen konnten. Sie waren gezwungen, die Bedingungen für einen Waffenstillstand mit dem Deutschen Reich so schnell wie möglich zu erarbeiten. Leicht fiel ihnen das nicht, denn sie waren sich keineswegs darüber einig, wie sie fortan mit Deutschland umgehen wollten.

In dieser Situation trat Foch auf den Plan. Schon am 8. Oktober 1918 präsentierte er dem Alliierten Obersten Kriegsrat einen ersten Entwurf bezüglich der Waffenstillstandsbedingungen. In Ermangelung eines eigenen schlüssigen Konzepts wurden Fochs Ausarbeitungen von den im Kriegsrat vertretenen Regierungschefs akzeptiert.

Hierzu gehörte die Besetzung des linken Rheinufers und die Einrichtung rechtsrheinisch gelegener Brückenköpfe. Aufgrund der Kriegslage hatte der Marschall sich zunächst auf Brückenköpfe im Oberrheingebiet, namentlich Straßburg, Rastatt und Neubreisach, konzentrieren müssen. Wenig später konnte er dann aber auch die Region Mittel- und Niederrhein in seine Planung einbeziehen. Daraufhin fanden die Rheinübergänge Köln, Koblenz und Mainz Einzug in Fochs Waffenstillstandsentwurf. Konkret handelte es sich dabei um den zweiten Entwurf des Marschalls, den er am 24. Oktober 1918 der französischen Regierung und am darauffolgenden Tag den Oberbefehlshabern der alliierten Armeen vorstellte. Diese Ausarbeitung Fochs bildete dann auch die Grundlage der Diskussion, die der Alliierte Oberste Kriegsrat zwischen dem 27. Oktober und dem 4. November 1918 um die Waffenstillstandsbedingungen für das Deutsche Reich führte. Gegen die Einrichtung der Brückenköpfe gab es bei den Verbündeten zwar Vorbehalte, doch am Ende war es Foch, der sich durchsetzte.

Hat also der Marschall schlampig und planlos gearbeitet?
Hierzu ist zu sagen, daß sich Foch bei der Ausarbeitung seiner Waffenstillstandsentwürfe auf die für Frankreich militärisch, politisch und wirtschaftlich wichtigen Ziele konzentrierte. Dazu gehörte die Einrichtung der rechtsrheinischen Brückenköpfe mit dem 30-Kilometer-Radius. Aus welchem Grund der Marschall ausgerechnet diesen Durchmesser wählte, ist mir bislang nicht bekannt. Möglicherweise handelt es sich um eine willkürlich gewählte Größe, eventuell aber auch um eine übliche. Unabhängig davon stellt sich jedoch die Frage, ob Foch nicht bemerkte, daß es keine Überlappung zwischen den Brückenköpfen Koblenz und Mainz gab, oder ob es ihm einfach egal war, daß dazwischen ein kleines Stückchen Land lag, das nicht besetzt wurde, sondern Teil des „freien“ Deutschlands blieb? Ich vermute, daß der Marschall sehr wohl wußte, daß durch seine „Grenzziehung“ ein „Flaschenhals“ entstand. Doch dessen Existenz nahm er in Kauf, zumal ihn die Probleme, die der Region und den dort lebenden Menschen aus diesem Konstrukt erwuchsen, nicht interessierten. Foch hatte allein die „großen“ militärischen und politischen Probleme im Auge; die zu lösen, war seine Aufgabe. Für eine Auseinandersetzung mit – für ihn – unbedeutenden Details blieb da keine Zeit.

Im weitesten Sinne traf das auch auf die Verhandlungen zu, die der Bevollmächtigte des Deutschen Reiches, Staatssekretär Matthias Erzberger, und Foch zwischen dem 8. und dem 11. November 1918 in Compiègne führten. Erzberger wies den Marschall seinerzeit darauf hin, daß die Einrichtung der Brückenköpfe Schwierigkeiten nach sich ziehen werde. Doch Foch lehnte es ab, darüber zu debattieren. Im Endeffekt waren es auch nicht die Brückenköpfe, die den Vertretern des Reiches in Compiègne das meiste Kopfzerbrechen bereiteten. Viel wichtiger waren Themen wie der politische Umsturz, den das Reich in dieser Zeit erlebte, und von dem man nicht wußte, wohin er führen würde. Darüber hinaus rang man um wirtschaftliche Fragen, Reparationen und die alliierte Blockade. Das waren die zentralen Probleme, die vorrangig geklärt werden mußten.

Darin bestand zwischen den Deutschen und den Alliierten übrigens Einigkeit. Abzulesen ist das beispielsweise an den Memoiren der an den Waffenstillstandsverhandlungen beteiligten alliierten Politiker und Militärs. Das Schicksal des „Flaschenhalses“ spielt in diesen Texten keine Rolle. Bestenfalls wird berichtet, daß es zur Einrichtung von Brückenköpfen auf der rechten Rheinseite kommen sollte. Welche Konsequenzen dies aber für die Region um Mainz und Koblenz nach sich zog, interessierte niemanden. Im Großen und Ganzen gilt das auch für deutsche Texte, ganz gleich, ob es sich nun um Dokumentensammlungen oder Erinnerungen aus dieser Zeit – also Oktober/November 1918 – handelt. Daraus folgt: Für die „große“ Politik war die Tatsache, daß durch die Planungen Fochs ein – oder der – „Flaschenhals“ geschaffen wurde, eine Marginalie. Für die Menschen, die dort lebten, stellte sich die Situation jedoch anders dar. Sie mußten mit den von Foch geschaffenen Fakten zurechtkommen; auch wenn das nicht immer einfach war.

Quellen und Literatur (Auswahl)

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden,
Abt. 405.

Auswärtiges Amt/Reichsministerium des Innern (Hg.): Amtliche Urkunden zur Vorgeschichte des Waffenstillstandes 1918. Auf Grund der Akten der Reichskanzlei, des Auswärtigen Amtes und des Reichsarchivs. 2. vermehrte Auflage. Berlin 1924.

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Marhefka, Edmund u.a. (Hg.): Der Waffenstillstand 1918-1919. Berlin 1928. 3 Bde. (hier: Bd. 1).

Marston, Frank Swain: The Peace Conference of 1919, organization and procedure. London 1944. Reprint 1981 Greenwood Press Westport/Connecticut (USA).

Matthias, Erich /Morsey, Rudolf (Hg.): Die Regierung des Prinzen Max von Baden. Düsseldorf 1962.

Mordacq, Henri: Die deutsche Mentalität. Fünf Jahre Befehlshaber am Rhein. Wiesbaden 1927.

Mordacq, Henri: L’Armistice du 11 Novembre 1918. Récit d’un témoin. Paris 1937.

Pnischeck, Edmund Anton:  Der „Freistaat Flaschenhals“ – Das groteskeste Gebilde der Besatzungszeit; abgedruckt in Zibell/Bahles, S. 91-121.

The Papers of Woodrow Wilson. Volume 51. September 14 - November 8, 1918.

Wein, Franziska: Deutschlands Strom – Frankreichs Grenze. Geschichte und Propaganda am Rhein 1919-1930. Essen 1992.

Zibell, Stephanie/Bahles, Peter Josef: Der Freistaat Flaschenhals. Historisches und Histörchen aus der Zeit zwischen 1918 und 1923. Frankfurt am Main 2009.

Zibell, Stephanie: Straffe Verwaltung fehlte im „Freistaat“. Wie sich eine kleine Region nach dem Ersten Weltkrieg selbst organisierte. in: Jahrbuch des Rheingau-Taunus-Kreises 2011. 62. Jahrgang. Idstein/Bad Schwalbach 2010, S. 103-106.

Die Autorin

Dr. Stephanie Zibell, Jahrgang 1966, studierte Politikwissenschaft, Germanistik und Publizistik; 1992 Magister Artium, 1999 Promotion, 2003 Habilitation.  Seither Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft an der Uni Mainz mit den Schwerpunkten Regionale Zeitgeschichte und Politisches System der BRD. Wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus und den Anfängen der Bundesrepublik Deutschland, zum Beispiel „Jakob Sprenger (1884-1945). NS-Gauleiter und Reichsstatthalter in Hessen“ (Darmstadt 1999) und „Politische Bildung und demokratische Verfassung – Ludwig Bergsträsser (1883-1960)“ (Bonn 2006). Außerdem rege Beschäftigung mit Regionalgeschichte, zum Beispiel „Rheingeschichten“ (Frankfurt am Main 2008), „Rheingaugeschichten“ (Frankfurt am Main 2009), „Der Freistaat Flaschenhals“ (Frankfurt am Main 2009) und „Gemeuchelt! Mörder und Gemordete in Rhein-Main“ (Frankfurt am Main 2010). Seit 2009 Mitglied der Hessischen Historischen Kommission Darmstadt.

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