Liebesbriefe aus dem Schützengraben
Historiker der Goethe-Uni werten die Feldpost eines jungen Ehepaars aus dem Ersten Weltkrieg aus

Von Veronika von Zahn

Irgendwo im Keller in einer Kiste lagen sie, säuberlich gebündelt nach Monaten: 1847 Briefe, geschrieben vor fast hundert Jahren. Zwischen 1914 und 1917. Die eine Hälfte beginnt mit „Mein liebes süßes Mädchen", die andere mit „Lieber Lorenz". Es ist die Korrespondenz eines Hamburger Ehepaars, das der Erste Weltkrieg auseinandergerissen hat. Ihre einzige Verbindung sind die Briefe, fast täglich einer. Erst vor wenigen Jahren haben die Enkel der Schreiber sie wiedergefunden.

Die Frankfurter Professorin für Neueste Geschichte Marie-Luise Recker hat den Briefwechsel gelesen und ausgewertet, gemeinsam mit wissenschaftlichen Mitarbeitern und Studenten. Über zwei Jahre hat die Arbeit gedauert. Jetzt haben sie 528 Briefe ausgewählt, in denen der Dialog von Anna und Lorenz Treplin lesbar wird. Noch in diesem Jahr soll er als Buch erscheinen.

1915 entdeckt Anna nach einem Fronturlaub, daß sie schwanger ist.

Als der Krieg begann, waren Lorenz und Anna Treplin sechs Jahre verheiratet. Das Paar hatte drei Töchter. Die Familie lebte in Hamburg, Lorenz war Chirurg. 1914 wurde er als Offizier und Arzt eingezogen, erst an die Westfront nach Belgien und Frankreich, dann an die Ostfront. Für das Ehepaar wurde der Krieg zur Bewährungsprobe. „Sie waren zum ersten Mal getrennt," sagt Marie-Luise Recker. Und die Trennung sollte lange dauern, fast vier Jahre.

Besonders Anna, die in Hamburg mit den Kindern zurückblieb, war von der neuen Situation überfordert. „Sie war plötzlich selbstständig, wie eine allein erziehende Mutter. Darauf war sie nicht vorbereitet" sagt Marie-Luise Recker. Annas Kampf mit den Schwierigkeiten des täglichen Lebens zeigt sich auch in den Briefen, „im Grunde ist es ein Jammer, daß man so viel Zeit seines Lebens auf diese Weise vertut, ohne die Gegenwart recht nutzen zu können.", schreibt sie im Januar 1917. Da hatte die Beziehung zu ihrem Mann schon einige schwere Zerreißproben hinter sich.

1915 entdeckt sie nach einem Fronturlaub, daß sie schwanger ist, am liebsten würde sie das Kind nicht bekommen. Als ihr Mann sie daraufhin in einem Brief als „Scheusal und Tränentier" beschimpft, vernichtet sie aus Wut das Schriftstück. Es ist der einzige Brief, der fehlt. „Sie nimmt in einem späteren Brief darauf Bezug, sonst wüßten wir gar nicht, daß es diesen Brief gab" sagt Marcus Rieverein, der an dem Projekt mitgearbeitet hat. Auch als ein Jahr später die älteste der vier Töchter, Ingeborg,  an einer Krankheit stirbt, kann die Mutter damit nur schlecht umgehen. Erst als Lorenz 1917 nach fast 4 Jahren aus dem Krieg zurückkommt, bricht der Strom der Briefe ab und das Familienleben normalisiert sich wieder.

„Für mich war es fast wie eine Bettlektüre, ich wollte immer wissen, wie es weitergeht"

Obwohl im Ersten Weltkrieg 28 Milliarden Feldpostbriefe geschrieben wurden, kennt Marie-Luise Recker keinen Briefwechsel, der so vollständig wäre. Für die Historikerin gibt er Einblicke in viele Aspekte des Alltagslebens einer bürgerlichen Familie und in die Mentalitäten der damaligen Zeit. Das Briefeschreiben gehörte für Menschen wie Anna und Lorenz zum Alltag, es war die einzige Möglichkeit, Kontakt zu halten. Die Briefe von Anna und Lorenz sind sehr intime Dokumente, sie waren nie für die Öffentlichkeit gedacht. „Man lernt die beiden schon sehr gut kennen, besser als sie sich vielleicht selbst kannten", sagt Marcus Rieverein. Auch den Studentinnen, die die Briefe aus dem Sütterlin in lateinische Buchstaben umgeschrieben haben, sind die Eheleute aus Hamburg ans Herz gewachsen. „Für mich war es fast wie eine Art Bettlektüre, ich wollte immer wissen, wie es weitergeht" sagt Anne Wokun, die im neunten Semester Geschichte studiert. Auch ihre Kommilitonin Melanie Chudoba ist ein bißchen traurig, daß nun alle Briefe gelesen sind. Sie hat den Briefwechsel auch ihren Großeltern zu lesen gegeben. Die haben sich die Briefe im Wechsel vorgelesen, ihr Großvater als Lorenz und die Großmutter als Anna. „Für meine Großeltern war das spannend, denn ihre Eltern waren ja damals in der gleichen Situation".

Die Briefe von Anna und Lorenz Treplin liegen heute im Hamburger Stadtarchiv. Die Frankfurter Wissenschaftler hoffen, daß sie auch für zukünftige Generationen noch eine spannende Lektüre sein werden.

Frankfurter Rundschau - 17.4.09 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Was lernen wir daraus?

Sicher nicht nur, daß Krieg Scheiße ist (viel mehr noch als “Opposition”, um mal einen bekannten Polit-Unterhalter zu persiflieren). Krieg ist eben auch dann Scheiße, wenn er in der Gegenwart geführt wird, 5000 oder 10.000 km von uns entfernt. Und in der Masse kaum die eigenen Leute betroffen, doch ganz fremde Menschen die Opfer sind. Menschen, die noch nie jemand gefragt hat, ob sie in den Krieg ziehen wollen.