Lichtblick im Schattenspiel der Geschichte
Hanna Papanek, als Kind vor Hitler geflohen, kehrt zurück und erforscht das Leben ihrer Tante, die eine Jüdin vor den Nazis versteckte

Von Waltraud Schwab

Als Kind überraschte ein Nazi-Aufmarsch Hanna Papanek auf dem Schulweg, als sie die Müllerstraße überqueren wollte. „Ich bin nicht weggelaufen", sagt sie. Die Tochter der Archivarin der SPD-Reichstagsfraktion, Elly Kaiser, und des SPD-Bildungssekretärs Alexander Stein kannte ihren Feind. Und sie wußte, daß sie ihm standhalten müsse.

Nur wenige Erinnerungen hat die heute 74-Jährige noch an ihre Geburtsstadt Berlin. Nun aber ist sie zurückgekommen, um die Fragmente ihrer Familiengeschichte zusammenzufügen. Denn darin spiegelt sich nicht nur privates Schicksal, sondern vor allem die politische Situation der Nazi-Zeit. Besonders dem Rätsel um ihre Lieblingstante Stefanie Hüllenhagen, eine geborene Kaiser, spürt die ehemalige Harvard- Professorin heute nach.

Bis dahin aber war es ein langer Weg. Zuerst wurde die streng wirkende Frau selbst ins Leben geworfen. Aufgewachsen ist Hanna im „roten Wedding", in der Großfamilie ihrer Mutter. Die SPD-Mitgliedschaft war für die Kaisers eine Frage der Identität. Mit Schildern um den Hals, auf denen „Wählt SPD" stand, sind Familienangehörige bei Wahlen die Afrikanische Straße auf und ab gegangen. Das Verhängnis jedoch konnten sie nicht stoppen. Sofort nach der „Machtergreifung" Hitlers muß Alexander Stein emigrieren. 1934 reist Hanna, siebenjährig, mit ihrer Mutter dem Vater nach Prag nach.

Wie viele Emigranten wird Papanek zur Weltreisenden. Nach vier Jahren Prag verbringt sie zwei Jahre in Frankreich. Im Oktober 1940 flieht sie mit ihrer Mutter nach Lissabon. Zwei Monate später landen sie im Hafen von New York. Die Sehnsucht der Eltern nach Berlin färbt fortan Hannas Bild ihrer Geburtsstadt. Hanna selbst kommt ohne Heimweh in der neuen Welt an und sucht sich ein eigenes Leben mit Studium, Heirat, Kindern.

Was als familiäres Idyll begann, bekommt in der McCarthy-Zeit eine neue Wendung: Denn nun trifft die Ausgrenzung als politisch links Orientierte Hanna Papanek selbst, führt sie aber in der Folge per Zufall nach Pakistan. Ihr Mann findet dort eine neue Arbeit. Bis 1990 wird sie insgesamt 20 Jahre in Asien leben und forschen. Neben Pakistan auch in Indonesien, Indien, Bangladesch und Singapur.

Die Neugier auf das Fremde habe sie zu ihrem Beruf gemacht, sagt die Professorin. Geschult an der Geschichte der Arbeiterbewegung, beginnt sie sich vor allem für Frauenarbeit in den asiatischen Gesellschaften zu interessieren. Im Rahmen ihrer Studien entdeckt sie die biografische Methode und gerät dabei selbst in den Blick. Was bedeutet es, wenn Frauen sich kaum mehr an ihre Kindheit erinnern?

Diese Frage hat Papanek spät zurück nach Berlin geführt. Hier geht sie auf Spurensuche. Denn einerseits mag ihr Leben an Brüchen und Neuanfängen reich sein, auf der anderen Seite aber kristallisiert sich an ihrer Biographie die deutsche Geschichte des Faschismus auf eigenwillige Weise. Gibt es in ihrer Familie doch außer den Sozialdemokraten, die in die Emigration gingen, auch viele Opfer des Holocaust. Fast alle Angehörigen des Vaters, baltische Juden, wurden ermordet. Dazu kommen jedoch Verwandte mütterlicherseits, die als Soldaten im Krieg starben, sowie Stefanie Hüllenhagen, die Schwester der Mutter, die eine untergetauchte Jüdin in Berlin zweieinhalb Jahre versteckte. „Für sie war Rettung eine Form von Widerstand", meint Papanek. Das Leben der Lieblingstante wird für sie zur Nahtstelle, an der historische Schuld und private Sühne sich verbinden.

Etwas, das Papanek aufatmen läßt.

Stefanie Hüllenhagen war Näherin und lebte in einer kleinen Ein-Zimmer-Hinterhof- Wohnung in der Bellermannstraße 14 im Wedding. Ab 1943 nahm die damals fast 50- Jährige die etwa gleichaltrige Helene Leroi auf. „Elly, ich konnte es einfach nicht mehr aushalten, die Frauen und Kinder mit dem Stern. Keiner sprach mit ihnen, in der Straßenbahn mußten sie stehen, ich stellte mich dann immer auch hin. Dann wurden sie aus den Fabriken geholt, durften nicht nach Hause, ohne die Angehörigen zu benachrichtigen, wie ein Stück Vieh. Ich dachte immer: du bist mitschuldig, wenn du das alles geschehen läßt", schrieb Hüllenhagen nach dem Krieg an Papaneks Mutter nach New York.

Ungewöhnlich ist, wie aus den Forschungen der Nichte hervorgeht, daß offenbar viele im Hinterhaus Bellermannstraße vermuteten, was es mit Helene Leroi auf sich hatte, und niemand sie in den mehr als zwei Jahren verriet. Ebenso ungewöhnlich, daß sie bei Bombenalarm mit in den Luftschutzkeller konnte und dort als „Tante Lenchen" Baldrian verteilte.

Schwer vorstellbar ist ein jahrelanges Zusammenleben auf engstem Raum in der damaligen Situation. Wie wurden Lebensmittel besorgt? Wie meisterten die Leute die ständige Gefahr? 1997 wurde im Zentrum für Antisemitismusforschung an der Freien Universität mit dem Aufbau einer Datenbank begonnen, die solchen Fragen nachgeht. Etwa 1400 Versteckte und 2000 Helfer und Helferinnen sind dort bisher aufgelistet. Die meisten aus Berlin.

Papanek beschäftigt sich bei ihrer Spurensuche aber auch damit, was nach 1945 aus Rettern und Geretteten wurde. Stefanie Hüllenhagen und Helene Leroi gehören zu jenen, die sich nach dem Ende des Krieges nur noch selten sahen und voneinander enttäuscht waren. Als Leroi sich für die SED stark machte, vertiefte der alte Streit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten die Kluft: „Ich kann ja auch nicht verstehen, daß sie von einer Diktatur nicht genug hat", schrieb eine Verwandte 1947 an Papaneks Mutter. Selbst der nächste Schritt der deutschen Geschichte, die Zweiteilung, kündigt sich in dieser privaten Beziehung bereits an.

Wenn Hanna Papanek bei früheren Familienbesuchen in Berlin mit ihrer Tante sprach, stieß sie auf Schweigen. Stefanie Hüllenhagen wollte die Zeit vergessen. Schnell. Alles. Auch die Vergewaltigungen durch russische Soldaten, die sie erlitt. „Darüber spricht man nicht...". Die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse braucht oft Jahrzehnte. Nicht selten obliegt sie wie im Falle von Holocaust und Verfolgung im Faschismus den Nachgeborenen.

Eine Gefahr, Subjektivität mit Fakten, private Erinnerung mit Dokumentation zu vermischen, sieht die Wissenschaftlerin nicht. Sie vergleicht die Rekonstruktion ihrer Familiengeschichte, über die sie ein Buch schreibt, mit dem javanischen Schattenspiel: „Auf der Seite des Puppenspielers - die übrigens den männlichen Zuschauern vorbehalten ist -, sieht man das Orchester und den Spieler, der die Puppen manipuliert. Verfolgt man die Geschichte von hier aus, ist sie konkret und läuft fast mechanisch ab. Auf der Schattenseite, auf der Frauen und Kinder sitzen, wird man hingegen sofort in die Fabel hineingezogen." Bei ihrer Rekonstruktion der Ereignisse will sie beides verbinden.

Für Hanna Papanek ist das, was Stefanie Hüllenhagen getan hat, ein kleiner Lichtblick in der deutschen Geschichte. „Ich bin stolz, daß sie meine Tante ist." Auf Betreiben der Harvard-Professorin wurde ihr Name dieses Jahr posthum in den Kreis der „Gerechten unter den Völkern" aufgenommen und auf der Ehrenwand im Garten der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem verewigt. 18.000 Männer und Frauen sind dort aufgeführt, darunter 400 Deutsche. Im Oktober wurde den Nachkommen von Stefanie Hüllenhagen in Berlin die Urkunde überreicht.

Frankfurter Rundschau - 3.11.01 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

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