Die Tochter von Philipp Reis fand in Friedrichsdorf kein Glück

Von Erika Dittrich

Es war ein trauriges Leben in bescheidenen Verhältnissen, das Elise Reis (1861-1920), die Tochter des Telefonerfinders, führte. Dabei hatte Philipp Reis großen Wert auf eine gute Schulausbildung seiner Kinder gelegt. Doch um die Jahrhundertwende war es für eine Frau aus bürgerlichen Kreisen schwer, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Schließlich zerbrach die Klavierlehrerin an ihrem kargen Schicksal und wählte den Freitod.

Gerade hatte Philipp Reis (1834-1874) seine geniale Erfindung gemacht, als ihm seine Frau Margarethe (1836-1895) am 14. Februar 1861 ein Töchterchen schenkte. Liebevoll kümmerten sich die Eltern um das Mädchen, zu dem sich zwei Jahre später noch Brüderchen Carl gesellte. Doch die schwere Krankheit, Reis litt an Lungentuberkulose, und schließlich sein früher Tod setzten der glücklichen Kindheit ein Ende. Elise war gerade einmal 13 Jahre alt. Mit dem Verlust des geliebten Vaters kamen auch materielle Sorgen, blieb doch fortan das regelmäßige Einkommen aus. Eine Pension stand der Witwe nicht zu. So blieb der kleinen Familie nichts weiter übrig, als zusammenzurücken und die unteren Räume im kleinen Fachwerkhäuschen zu vermieten.Elise Reis - !cid_119042412@28062010-2f52

In seinem Testament hatte Reis verfügt, seinen Kindern eine gute Schulausbildung angedeihen zu lassen. Wenn auch nicht archivarisch belegt, so besuchte Elise sicher das gegenüber ihrem Haus gelegene Institut von Pfarrer Bagge, eine private Mädchenschule. Hier konnte Elise ihr musisches Talent entdecken, lernte das Klavierspielen und bekam Zeichenunterricht.

Zunächst blieb Elise im Elternhaus wohnen, wo sie aufopferungsvoll ihre Mutter bis zu deren Tode pflegte. Damals war Elise 34 Jahre alt und, da sich ihr Verlobter anders entscheiden hatte, noch immer unverheiratet. Da die junge Frau nur ein kleines Barvermögen von rund 16.000 Mark und keinerlei Berufsausbildung besaß, beantragte Bürgermeister Garnier beim Reichspostamt in Frankfurt eine kleine Rente für die Tochter des Telefonerfinders. Gewährt wurden schließlich 400 Mark jährlich.

Nachdem ihr Bruder, der inzwischen Buchhalter bei der Zwiebackfabrik Stemler geworden war, geheiratet hatte, zog Elise aus ihrem Geburtshaus aus. Ein neues Zuhause fand sie später in einer Dachwohnung der Hauptstraße 101, dem neu erbauten Haus von Adolph Louis Achard. Hier gab sie Klavierstunden, um ihre karge Rente aufzubessern.

Doch während des Ersten Weltkrieges verschlechterte sich ihre Gesundheit derart, daß sie ihren Haushalt nicht mehr allein zu führen vermochte. An Klavierunterricht war gar nicht mehr zu denken. Unterernährung war die Folge. Da half auch die einmalige Zahlung von 300 Mark durch die Post nicht weiter. Den Vorschlag, ihre Wertpapiere in eine Versicherungsgesellschaft zu zahlen, lehnte Elise ab. Das Geld sei für ihre Nichten bestimmt, da diese seit 1917 Halbwaisen waren. Aus dieser mißlichen Situation sah Elise keinen anderen Ausweg mehr, als sich das Leben zu nehmen. Am 14. Mai 1920, gegen 13 Uhr, fand man sie erhängt in ihrer Wohnung auf. Wenige Tage später berichtete der „Taunusbote": „Die 59-jährige Privatiere Reis hat in der Nacht von Donnerstag zum Freitag ihrem Leben durch Erhängen freiwillig ein Ziel gesetzt. Die Verstorbene litt schon längere Zeit an nervösen Störungen und dürfte dieses Leiden die Ursache zu der Tat gewesen sein." Ihre Nichte Marie vermutete, ihre Tante habe „ihr Leben in religiösem Wahn durch eigene Hand" beendet.

Einen Grabstein erhielt Elise Reis erst spät, erlaubten es doch die finanziellen Verhältnisse der Familie nicht. Denn ihre verwitwete Schwägerin hatte das Haus verkauft und den gesamten Erlös während der Inflation verloren. So setzte erst 16 Jahre nach ihrem Tod Margarethe Reis ihrer Schwägerin eine schwarze Marmortafel mit der Inschrift „Hier ruht Elise Reis 1861 -1920".
 

Die Autorin Erika Dittrich ist Leiterin des Philipp-Reis-Museums in Friedrichsdorf.

Elise Reis - !cid_119042412@28062010-2f4b

Elise Reis lebte in Armut -1920 nahm sie sich mit 59 Jahren das Leben. Bilder: PHILIPP-REIS-MUSEUM

Frankfurter Rundschau - 29.5.10 freundlicher Erlaubnis der FR

“Damals” starb mancher große Erfinder in Armut, konnte seiner Familie nichts hinterlassen. Wie anders ist das doch heute: ein paar patentierte Computer-Klicks... und die modernen Taler rollen.