Der Henker richtete die Knochen
Der Drogenschrank stand beim Schuster, und der erste Arzt kam erst 1853 / Medizinal-Ausstellung in Seulberg

Eines der ersten Schwimmbäder Deutschlands entstand anno 1927 auf Geheiß des Arztes Friedrich Neiß in Friedrichsdorf. Der Grund dafür war einfach: „Die Sauberkeit ließ sehr zu wünschen übrig", ist in der Ausstellung „Pour les Malades - Friedrichsdorfer Medizinalgeschichte" im Seulberger Heimatmuseum zu lesen.

Friedrichsdorf - „Durch die Inzucht war Asthma und chronische Bronchitis weit verbreitet... Die Köpperner neigten zur Kropfbildung... Selten krank waren die Jugendlichen, unter denen es keine Frühreifen gab..." Diese Sätze stammen aus den Aufzeichnungen des Friedrichsdorfer Arztes Friedrich Neiß, der sich wegen der schlechten hygienischen Verhältnisse zuerst vehement für Wannen- und Brausebäder in der Volksschule einsetzte und schließlich für den Bau des Schwimmbades 1927 sorgte.

Der Barbier heilte Wunden

„Pour les malades" zeigt anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Diakonie in Friedrichsdorf die Geschichte der medizinischen Versorgung in der Hugenottenstadt. Mit ausgebildeten Ärzten hatte man es erst im 19. Jahrhundert zu tun.

Der erste Nachweis einer medizinischen Versorgung stammt allerdings schon aus dem Jahr 1710. „Damals wurde ein Holzhäuser aus Burgholzhausen von Räubern verletzt. Behandelt wurde er von einem Barbier", erzählt Stadtarchivarin Erika Dittrich und zeigt Dokumente aus dieser Zeit. „Bei Knochenbrüchen wurden gerne Henker und Abdecker eingesetzt, da sie sich gut mit der Anatomie auskannten. Die Versorgung

von Wunden übernahmen Bader und Barbiere", so Dittrich und zeigt auf Skalpelle, Schröpfgläser und Spitzgläser. Letztere wurden zum Beispiel beim Aderlass eingesetzt. Jean Henri Knoth erhielt 1790 die Barbiergerechtigkeit. Er durfte damit auch als Chirurg und Wundarzt tätig sein. Der erste Arzt kam erst 1853 nach Friedrichsdorf: Dr. Ludwig Fuchs war verpflichtet, Menschen, die in einer Armenkasse registriert waren, kostenlos zu behandeln. Von der Gemeinde erhielt er 150 Gulden jährlich. Fuchs gründete damals die Kleinkinderschule. Noch heute unterstützt die Ludwig-Fuchs-Stiftung den evangelischen Kindergarten. Als er 1920 mit 86 Jahren starb (er war damals der älteste Friedrichsdorfer) übernahm Friedrich Neiß seine Stelle. Nach Köppern kam 1908 mit Emil Schmidt der erste Arzt.

Bevor es die erste Apotheke gab, mussten sich die Friedrichsdorfer aus dem „Drogenschrank", der beim Schuster Heinrich Volz in Seulberg stand, mit dem Notwendigsten versorgen. Das Original-Drogenverzeichnis aus dem Jahr 1901 ist im Heimatmuseum zu besichtigen. Die Anfrage im Jahr 1843, eine Apotheke einrichten zu dürfen, wurde von den Friedrichsdorfer Stadtvätern, abgelehnt: Der Einzugsbereich war zu klein. Erst 3.500 Einwohner würden eine Apotheke tragen - ein bis heute übliches Kriterium. Friedrichsdorf zählte damals zusammen mit Seulberg, Köppern und Dillingen erst 2700 Einwohner. Auch für die Niederlassung eines Arztes musste eine Gemeinde über mindestens 3500 Einwohner verfügen.
Seulberg - Apothekertisch im Museum

Ein Apothekertisch im Seulberger Museum. Das ätherische Öl aus den Rosenblättern wirkt entzündungshemmend, zum Beispiel bei Ekzemen und kleineren Hautverletzungen.

Dass 1851 dann doch das Apothekerprivileg ausgestellt wurde, hatte Friedrichsdorf den beiden Internaten und den umliegenden Färbern, die mit Chemikalien versorgt werden mussten, zu verdanken. Dr. Hoffmann eröffnete 1852 die erste Apotheke.

„Blaue Schwestern" aus Bern

Eng verbunden mit der Medizinal-Geschichte Friedrichsdorfs ist die Geschichte der Diakonie, die sich seit 100 Jahren „bei der Pflege und Unterstützung Kranker, Armer und Schwacher engagiert", heißt es in der Jubliäumsschrift „Pour Les Malades". Die erste Diakoniestation entstand hier im Januar 1905, wenige Monate später folgte Köppern,  l 1906 Seulberg. Die ersten Diakonissen kamen aus dem Berner Mutterhaus. Wegen ihrer dunkelblauen Tracht wurden sie auch „Blaue Schwestern" genannt.

In der NS-Zeit wurden sie zum Teil durch „Braune Schwestern" ersetzt, indem der Bürgermeister den staatlichen Anteil am Gehalt der Diakonissen einfach strich. 1992 wurden die Diakoniestationen der Stadtteile zusammengelegt. Seither ist ihr Sitz in Burgholzhausen. cornelia farber

 

Die Ausstellung „Pour Les Malades - Friedrichsdorfer Medizinalgeschichte" ist bis zum 2. April im Heimatmuseum Seulberg, Alt Seulberg 46, zu sehen. Das Haus ist mittwochs und donnerstags von 9 bis 12 Uhr und sonntags von 14 bis 17 Uhr geöffnet. Weitere Informationen unter www.heimatmuseum-seulberg.de.

Frankfurter Rundschau - 20.2.06 - mit freundlicher Erlaubnis der FR