1933 - Als das Grauen begann
Wiesbaden: Überfälle und Morde begleiteten vor 75 Jahren den Anfang der NS- Diktatur

Von Ralf Munser

Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) gewann in Wiesbaden bereits während der letzten Jahre der Weimarer Republik zunehmend an Einfluß. Den ersten dokumentierten Nazi-Überfall des Jahres 1933 gab es in der Silvesternacht auf Angehörige der Eisernen Front im Goldsteintal. Damals lauerten 25 SA-Leute acht Front-Angehörigen und deren Frauen auf. Zeitungen berichteten nahezu täglich in der Endphase der Weimarer Republik und zu Beginn der NS-Diktatur über Überfälle und Schlägereien in den Wiesbadener Stadtteilen.

1933 - Wiesbaden

Die Wochen und Monate vor und nach der Machtübernahme waren stark von Gewalt geprägt, es kam häufig zu bewaffneten Auseinandersetzungen. Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 rief stürmische Begeisterung bei den NSDAP-Anhängern, aber auch heftige Proteste von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Stadt hervor. In den Wochen nach der Machtübernahme wurden mehrere politische Gegner angegriffen, beispielsweise der Gewerkschafter und Sozialdemokrat Konrad Arndt. Am 24. März wurde er bereits zum zweiten Mal überfallen und schwer verletzt.

Am 8. Februar löste sich die Stadtverordnetenversammlung auf. Zwar war Georg Krücke noch Oberbürgermeister, de facto aber seit der Kommunalwahl vom März nicht mehr im Rathaus und schied im Juni unter Zwang aus dem Amt. Bereits am Abend der Stadtverordnetenwahl vom 12. März wurde er von der SA in so genannte Schutzhaft genommen. Das Amt übernahm der Bürgermeister und Stadtkämmerer Alfred Schulte. In der Sitzung der Stadtverordneten vom 31. März wurde Adolf Hitler zum Ehrenbürger der Stadt ernannt. Im Anschluß an die Sitzung fand eine große NS- Propagandaveranstaltung auf dem Vorplatz des Rathauses statt. Das Rathaus und der Sitzungssaal wurden mit Hakenkreuzfahnen geschmückt.

Im April 1933 wurden in der Stadt zwei Bürger ermordet, weil sie Juden waren. Da die Presse damals noch nicht gleichgeschaltet war, berichteten die Zeitungen über den Vorfall. Demnach klingelten am Abend des 22. April zwei junge Männer in der Wilhelmstraße 20 bei dem Seidenhändler Salomon Rosenstrauch. Sie verschafften sich Zugang zur Wohnung, wobei der 57-jährige Rosenstrauch stürzte und wenig später an einem Herzschlag starb.

Ein Stolperstein für Max Kassel

Am gleichen Abend drangen fünf Männer ins Haus Webergasse 46 ein. Dort lebte der jüdische Kaufmann Max Kassel; er betrieb seit vielen Jahren ein Geschäft für Butter, Milch und Eier. Bei der Wiesbadener SPD war Kassel Kassierer. Er wurde von den Eindringlingen erschossen. Im Juni 1949 wurden die Täter Ernst Franzreb und seine SA-Genossen Jean Haas und Ernst Krause vom Landgericht Wiesbaden zu vier bis zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. An Max Kassel erinnert heute sein Grabstein auf dem jüdischen Friedhof an der Platter Straße und ein „Stolperstein" in der Webergasse.

Von den 155.000 Einwohnern, die Wiesbaden 1933 hatte, waren mehr als 3.000 Juden. Überlebt haben bis zum Einmarsch der Amerikaner nur 29 von ihnen. Alle anderen, darunter mindestens 40 Mädchen und Jungen unter 14 Jahren, wurden umgebracht. Die Deportationen hatten schon früh begonnen. Bereits im Herbst 1938 waren etwa 250 bis 300 Wiesbadener betroffen. Danach gab es etliche kleinere Deportationsschübe, wie im Mai 1942 - 25 Wiesbadener - und im Juni 1942 - mehr als 370 Wiesbadener.

Frankfurter Rundschau 31.12.07 - mit freundlicher Erlaubnis der FR