Vertrieben und ermordet. Stadt und Bürger erinnern an die Opfer des NS-Terrors.
291 Stolpersteine zur Mahnung
Projekt des Künstlers Demnig hat in Wiesbaden schon viele Mitstreiter

Von Waltraut Rohloff

Ertan Tezcan sagt überzeugt: „Gute Sache." Der Türke ist seit Donnerstag Pate eines „Stolpersteins" - genauso wie sein Chef Dieter Litzius und seine Kollegen Jürgen Ranft und Vitali Garkavenco. Auf ihrem knallorangefarbenen Betriebsauto steht Asphalt-Cowboys. Die Truppe ist beim städtischen Bauhof beschäftigt und dafür zuständig, Stolpersteine zu verlegen. Das Quartett ist nunmehr Pate für die dem jüdischen Ehepaar Regina und Moritz Förster sowie drei ihrer vier Kinder gewidmeten Stolpersteine.

Das Ehepaar mit den Kindern David (geboren 1925), Melga Mathilde (1928) und Heinrich (1930) wurden am 28. Oktober 1938 an die polnische Grenze abgeschoben. Ihre älteste Tochter Rosa Lina (geboren 1923) wurde von der Familie getrennt. Rosa Lina überlebte die Ghettos Bendzin und Tarnowitz sowie Aufenthalte in Konzentrationslagern. Bis August 1943 bekam sie noch Post von ihren Angehörigen; wo und wann ihre Eltern umgekommen sind, konnte Georg Schneider vom Aktiven Museum Spiegelgasse bisher nicht recherchieren.

Der Hutmacher Förster und seine Frau sowie drei ihrer Kinder haben nun einen „Stein" vor dem Haus Mauergasse 14. Die „total überraschte" Eigentümerfamilie Schweitzer wußte bis vor Kurzem gar nichts von dem Schicksal der jüdischen Mitbewohner ihrer Vorfahren.

Insgesamt 30 Stolpersteine hat die Bauhof-Kolonne am Donnerstagvormittag in der Innenstadt, in Bierstadt, in Biebrich und in Erbenheim verlegt. Weitere 24 waren bereits am Dienstag „eingepflanzt" worden, die Mehrzahl davon in der Adelheidstraße.

Außer den Bauhof-Beschäftigten gehören am Donnerstag erstmals auch Konfirmanden aus der Bergkirchen-Gemeinde zu den Paten. Die Pfarrer Helmut Peters und Markus Nett haben im „Konfi-Unterricht" das Thema angeboten. Fünf Jugendliche haben über das Schicksal von Perlja (Paula) Hammermann und Helene Ludwig nachgeforscht. Die Steine liegen nunmehr vor dem Haus Nerostraße 46 und Adlerstraße 42. Bezahlt wurden sie aus der Kollekte des Konfirmations-Gottesdienstes. Die Aktion von Konfirmanden soll im inneren Bergkirchenviertel fortgesetzt werden.

Auf Geschenke verzichtet

Pate zu werden, ist nicht schwer. Eine Patin, die nicht genannt werden möchte, hat beispielsweise auf Geschenke aus Anlaß ihres Geburtstags verzichtet und um Spenden gebeten: Immerhin ist der Betrag für sechs Steine zusammengekommen.

Mittlerweile ragen in Wiesbaden an 118 Standorten 291 Messingplatten mit eingravierten Namen aus Bürgersteigen. Im viel größeren Frankfurt, so heißt es im Aktiven Museum Spiegelgasse, seien es „ungefähr genauso viele". Das „Schneeball-System" funktioniere inzwischen ganz gut. Weit mehr als die Hälfte der Stolpersteine hat Ertan Tezcan eingelassen und blank poliert. Der Initiator der Gedenkaktion, Gunter Demnig, kann mit ihm nicht mithalten...
291 Stolpersteine

Das Schicksal der Familie Förster ist noch ungeklärt.  Bild: Michael Schick

Frankfurter Rundschau - 3.7.09 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

 

Immer etwas mehr
40 Prozent der jüdischen Einwohner Wiesbadens starben

Bevor sie zwischen 1933 und 1945 verfolgt, vertrieben und ermordet wurden, lebten in Wiesbaden 2700 jüdische Deutsche: knapp zwei Prozent der Einwohner, mehr als im Durchschnitt ganz Deutschlands. Als die alliierten Truppen Deutschland vom NS-Terror befreiten, waren mindestens 1147 der Wiesbadener Juden ermordet. Das sind 40 Prozent und im Vergleich zum gesamten Deutschen Reich (etwa 30 Prozent) eine auffallend hohe Quote.

Von den einst vier Synagogen fiel besonders die am Michelsberg auf. Am Vorabend der Einweihung (1869) hatte die jüdische Gemeinde durch die Anwesenheit des preußischen Königs Wilhelm I. höchste Ehre genossen. Auf dem Hintergrund solcher Erfolge des Judentums kommentierte die „Jüdische Wochenzeitung für Nassau" den Wahlerfolg der Nationalsozialisten im März 1933 noch selbstbewußt deutsch-national: „Bereit zur Mitarbeit und zu Opfern, aber nicht als Bittende, sondern als mit Fug und Recht am Schicksal Deutschlands innerlich Beteiligte, schreiten wir deutsche Juden erhobenen Hauptes und guten Gewissens in die Zukunft. Sie wird richten!"

Bis 1945 richtete aber das Unrecht. Zerstörung, Raub und Demütigungen blieben seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten an der Tagesordnung. Im Zusammenspiel von NSDAP, Stadtverwaltung, Finanzamt und anderen Beteiligten wurden die Juden enteignet, ihr Vermögen wurde an „Arier" verscherbelt oder Staat und Stadt rissen es sich unter den Nagel.

Täter entscheidet über Opfer

Oberbürgermeister Erich Mix, „Führer der Gemeinde" von 1937 bis 1945, enteignete Ende der 30er Jahre die Juden und durfte - ein besonderer Fall - in den 50er Jahren als Vertreter der Stadt [erneut: Oberbürgermeister] und FDP-Mitglied über Rückerstattungsansprüche der Regimeopfer mitentscheiden. Schon Anfang der 50er Jahre zählte die jüdische Gemeinde wieder 300 Mitglieder, vorwiegend aus Osteuropa.


DAS PROJEKT

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist", sagt der Kölner Bildhauer Gunter Demnig. Der Künstler erinnert an die Opfer der NS-Zeit, indem er vor ihrem letzten selbstgewählten Wohnort Gedenktafeln aus Messing ins Trottoir einläßt.

Inzwischen liegen Stolpersteine in mehr als 300 Orten Deutschlands, ebenso in Österreich, Ungarn und in den Niederlanden. In Wiesbaden läuft das Projekt seit 2004. Stadtverwaltung, politische Gremien (so auch Ortsbeiräte) und Privatleute unterstützen es.

Das Aktive Museum Spiegelgasse ist Anlaufstelle für das Projekt. Besondere Bezugspunkte für eine Patenschaft können sein die Straße oder das Haus, wo die Menschen gewohnt haben, an die erinnert werden soll, der Beruf oder der Kontakt zu Nachkommen und Familienangehörigen der Opfer.

Die Patenschaft für einen Stolperstein kostet 105 Euro, davon bekommt der Künstler für die Anfertigung 95 Euro, 10 Euro behält das Aktive Museum Spiegelgasse als Verwaltungsgebühr ein.

Auskunft und die Liste der Namen und Stolperstein-Orte: www.am-spiegelgasse.de.

Frankfurter Rundschau - 3.7.09 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Gehen Sie dem Verweis auf OB Mix nach. Gelebtes Leben. Klar doch: “Wir sind alle schuldig geworden...”

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