Am historischen Ort
Die Pogromnacht 1938, der Gedächtnisort Paulskirche und der Redner Alfred Grosser

Von Christian Thomas

"Ja, Auschwitz war einmalig", betonte vor dreizehn Jahren, auf Einladung des Börneplatz-Bündnisses, der gebürtige Frankfurter Alfred Grosser. Eingeladen als Politologe und Publizist war der damals 72-Jährige aus Paris nach Frankfurt angereist, um dem Magistrat und der Mehrheit der Stadt, beide geneigt, in den freigelegten Resten des jüdischen Ghettos eine ausgeschachtete Baugrube zu sehen, den Erinnerungsort an die Pogromnacht vom 9. November 1938 abzuringen, den heutigen Börneplatz. Grosser, Sohn jüdischer Eltern, seit 1937 Franzose, sagte damals weiter: "Aber man stellt keine Einmaligkeit fest, indem man sie behauptet; man stellt sie nur fest, indem man vergleicht."

Der moralische ImperativDSCF3662

Der Vergleich als historischer und politischer Maßstab, als moralischer Imperativ, nicht um Auschwitz zu relativieren, sondern um die Singularität dieses Zivilisationsbruchs in der Geschichte der Menschheit zu verdeutlichen. Der am Unfaßbaren orientierte Imperativ, um sich gegenüber keinem Verbrechen versöhnlich, gegenüber keinerlei Menschenverachtung nachsichtig zu zeigen, daraus machte Grosser an diesem Abend im Dominikanerkloster keinen Hehl, dort, wo 1938, direkt gegenüber, eine der vier großen Frankfurter Synagogen gebrannt hatte.

Grosser hat seine Geburtsstadt unmittelbar nach dem Krieg wieder aufgesucht, er hat darüber berichtet, wie er in die nicht nur durch die Bomben ruinierte Stadt zurückkehrte, um sich zwischen den Trümmern zurechtzufinden, Halt am Ethos der überlebenden Opfer des Naziregimes findend. Grosser und Frankfurt - das blieb eine intensive Verbindung, wurde er doch nicht nur 1975 geehrt mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels oder 1986 mit der Goethe-Plakette der Stadt. Da hatte Grosser, ein Jahr zuvor, auch diejenigen, die es wegen ihres Antikapitalismus oder Antizionismus oder überhaupt Antiaktivismus nicht besser wissen wollten, daran erinnert, daß Rainer Werner Fassbinder mit "Die Stadt, der Müll und der Tod" Frankfurt ein „schlechterdings antisemitisches Stück" vermacht hatte.DSCF3677

Jetzt wird Grosser zum Handlanger des Antisemitismus gestempelt; vor allem der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, hat die Wahl Grossers als Gastredner zur Erinnerung an die Pogromnacht von 1938 als "pietätlos" bezeichnet und die Einladung in die Frankfurter Paulskirche scharf verurteilt. Kramer, wie auch andere Vertreter der jüdischen Gemeinde, begründeten ihr vehementes Veto mit Grossers Haltung zu Israel, seiner "radikalen und einseitigen" Israelkritik, so Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats. Über die Gedenkfeier vom 9. November 2010 zur Erinnerung an die Pogromnacht des 9. November 1938 läßt sich vorab bereits sagen, daß sie eine historische sein wird.
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Man kann nicht verschweigen, daß Grossers Kritik an der Palästinenserpolitik Israels undiplomatisch ist, in seinem jüngsten Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem" hat Grosser sich mit den Fehlern Israels beschäftigt, angefangen von einer verhängnisvollen Besatzungspolitik. Keine Frage, das Buch des Politologen, der als einer der Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich stets Anstrengungen zur Versachlichung unternahm, ist von außergewöhnlichem Pathos. Die historischen Fehler Israels, die moralische Anfechtbarkeit, indem es seine Besetzungspolitik seit dem Sechs-Tage-Krieg fortsetzte, ist immer schon Grossers Thema gewesen, er hat sich in dieser Frage kompromißlos gezeigt, selbst wenn er in „Verbrechen und Erinnerung" betont: „Die Passivität der Juden (während der Nazigreuel, d. Red.) ist sehr unterschiedlich beurteilt worden, und die Ablehnung, die explizite oder implizite Verurteilung dieser Haltung, spielte bei der militärischen Entschlossenheit des Staates Israel eine entscheidende Rolle." Gleichwohl hat er die Brutalität, mit der ein entschlossenes Israel sein Existenzrecht wahrnimmt, angeprangert, die schikanöse Besatzerattitüde ebenso wie den völkerrechtswidrigen Mauerbau.DSCF3680

Grosser hat in den letzten Jahren schneidend ausgeteilt, gegen den Zentralrat der Juden, namentlich gegen das Vorstandsmitglied Dieter Graumann, mit dem er die Paulskirchengedenkfe ier gemeinsam bestreiten wird. In einem weiteren Interview behauptete Grosser, „daß sich Deutsche zu allem Möglichen kritisch äußern dürfen, aber nicht zu Israel".

Mit der Formulierung der „Keule, die ständig gegen Deutsche geschwungen wird, falls sie etwas gegen Israel sagen", hat er sich seit 1998 auf die Seite Martin Walsers geschlagen.

Grossers unverbindlich-scharfe Israelkritik ist gelegentlich mit dem jüdischen Selbsthaß" erklärt worden. Der gegen ihn gar erhobene Vorwurf des Antisemitismus ist auch damit entkräftet worden, daß moralisch kompromißlose Kritik an Israel ja nicht ernsthaft die Hälfte der Israelis zu Antisemiten stempele.DSCF3682

Wenn jetzt ein so besonnener Intellektueller wie der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Salomon Korn, Grosser in einem Fernsehinterview als „nützlichen Idioten" bezeichnet hat (und dabei obendrein suggeriert, Grosser sei nicht nur funktionalisiert, sondern vorgeschickt worden), dann ist das von radikaler Hartherzigkeit und Hybris gegenüber einem Mitglied der Zerrissenheit Erlebnisgeneration, einem Frankfurter Exilanten. Allein die Hybris scheint Grosser in seinem Urteil zu bestätigen: „Sobald einer die Stimme gegen Israel erhebt, heißt es sofort „Antisemitismus“.

Zerrissenheit ist das Schlüsselwort

Kein Zweifel, Grossers Israelkritik ist harsch, angefangen von der Staatsräson, mit der Israel sein Existenzrecht wahrnimmt, womit die Palästinenser in den besetzten Gebieten der Drangsal ausgesetzt werden, einer Gnadenlosigkeit, mit allen daraus folgenden Ressentiments und Revanchismusgelüsten. Grosser geht weiter, nennt er doch die Staatsräson eine Staatsreligion, „so etwas wie eine Staatsreligion der Shoah". Aber gibt es nicht auch Israelis, die das israelische Staatsverständnis von einem Gründungsmythos beherrscht sehen?DSCF3681

Zweifellos ist es befremdend und, an erster Stelle für einen Juden, empörend, wenn er in dem Buch „Von Auschwitz nach Jerusalem" das Wort Kristallnacht liest, ohne Anführungszeichen, mit dem es, wie noch in seinem Buch „Verbrechen und Erinnerung" als Nazijargon ausgewiesen wurde, als NS-Propagandawort, als Stichwort für den Pöbel. Irritierend dieser Mißgriff auf eine Vokabel, die den Nazis sowohl als Verharmlosung wie als Zynismus nur recht war. Dieser Mißgriff ist um so irritierender, als sich Grosser auf Emmanuel Levinas beruft, nicht zum ersten Mal auf das Bekenntnis des jüdischen Philosophen zum Außenseitertum - wie, nicht zuletzt, bei aller Neigung zur eingestandenen „Selbstüberschätzung", auf die Zerrissenheit, des unangepDSCF3683aßten Albert Camus.

Camus' Ethos der Zerrissenheit ist das Schlüsselwort. Sicher, Frankfurts Paulskirche wäre nicht die Paulskirche, wenn es in ihr über das singuläre Menschheitsverbrechen der Shoah auch nur zwei Meinungen gäbe. Frankfurts Paulskirche wäre aber auch nicht mehr die Paulskirche, wenn sie nicht der Ort der mindestens zwei Meinungen wäre, des Außenseitertums, also auch der Zerrissenheit, etwa über Israel.

Frankfurter Rundschau - 9.11.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Ist das die Lebensrealität heute?

In Palästina eine gefühlte Besatzung seit 100 Jahren, Flucht und Vertreibung der alteingessenen Bevölkerung seit 1947, die Nakba, die totale Besatzungsherrschaft seit 1967. Kriege gegen Palästina, Gaza, Libanon, Irak (Zerstörung eines Reaktors) - und ständige Drohungen mit Krieg und Zerstörung gegen den Iran. Besatzung, Unterdrückung, Vernichtung der Infrastruktur, 12.000 Gefangene in den israelischen Gefängnissen, ständige Überfälle gegen die Zivilbevölkerung in Palästina und Gaza. Vor allem: kein Ende in Sicht. Trotz Völkerrecht und zahlreicher UNO-Resolutionen.

Und in Frankfurt, in der alt-ehrwürdigen Paulskirche, d.h. zeitlich ganz kurz davor? Ein Krieg der Worte, der Verunglimpfungen, der Beleidigungen, der Ehrabschneidung. Ein vormals jüdischer Frankfurter, Alfred Grosser, ein hochrespektierter Humanist, wird angegriffen und durch den Dreck gezogen ("jüdischer Selbsthaß"), seine Einladung als "pietätlos" gegeißelt und seine Ausladung verlangt. Durch wen? Nein, nicht durch die Täter von “damals”, sondern durch ehrbare Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main, heute, AD 2010.

Warum?

Alfred Grosser erkennt das Elend des besetzten Palästina nicht nur als bitter gelebte Realität für die Opfer, er geißelt das Unrecht mit deutlichen Worten. Übt Kritik an dieser Politik des Staates Israel, verlangt das Ende der Besatzung. Darf er das? Die hiesige jüdische Gemeinde meint in Übereinstimmung mit der Staatsdoktrin Israels "Das darf er nicht!" - das schade Israel.

Nein, liebe Mitbrüder und Mitschwestern, das darf er. Und es ist gut, daß er es mutig tut. Denn er, Alfred Grosser, ist nun wirklich unverdächtig, dem Staate Israel Böses zu wünschen.

Was bleibt?

Die nicht mehr ganz neue Forderung: "Zwei Staaten für zwei Völker - in gesicherten Grenzen, respektiert und geschätzt von der ganzen Weltgemeinschaft."

"Reichskristallnacht"

Nach meiner ganz deutlichen Erinnerung war es Ignaz Bubis selbst, der angeregt hatte, diesen Begriff zu benutzen. Zu gebrauchen, um die ganze Ungeheuerlichkeit dieser Tat, dieser Denke, dieses Verbrechens nie mehr untergehen zu lassen.

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Moshe Zuckermann:
“Vor 35 Jahren verurteilte die Vollversammlung der Vereinten Nationen Israels Staatsdoktrin”

“Der Soziologe Moshe Zuckermann lehrt seit 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (Universität Tel Aviv) und war von 2000 bis 2005 Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte in Tel Aviv.”