Widerstand war stärker als gemeinhin angenommen
Stadtarchivar Axel Ulrich hat politisch-gewerkschaftliche Aktionen gegen das NS- Regime erforscht / Vortrag im DGB-Haus

Von Lia Venn

Während der Nazi-Diktatur haben mehr Menschen Widerstand geleistet als gemeinhin angenommen. Diese These vertritt der Historiker Axel Ulrich vom Wiesbadener Stadtarchiv, der sich seit 25 Jahren mit dem Thema befaßt. Besonders im Rhein-Main- Gebiet sei der politisch-gewerkschaftliche Widerstand groß gewesen. Auch in Wiesbaden habe es viele gegeben, die sich dem NS-Regime entgegenstellten.

WIESBADEN. „Vor allem, um einer möglichen Kontrolle unserer Post zu entgehen, wurde etwa Anfang Februar 1933, also kurz nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, zwischen Wiesbaden und unserem Gauvorstand in Frankfurt eine Fahrradstafette eingerichtet, über die der Austausch organisationsinterner Nachrichten und Informationen erfolgte. Unser Umschlagplatz war damals das Denkmal am Wandersmann." Das berichtet der spätere SPD-Stadtrat Georg Feller aus der Widerstandsarbeit des Wiesbadener Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold.

Der Historiker und Wiesbadener Stadtarchivar Axel Ulrich hat sich durch Gespräche mit Zeitzeugen und über Forschungsarbeiten ein Bild vom politisch-gewerkschaftlichen Widerstand im Rhein-Main-Gebiet gemacht. Zusammen mit Lothar Bembenek hat er unter anderem die Dokumentation „Widerstand und Verfolgung in Wiesbaden 1933- 1945" herausgegeben.

Seiner Meinung nach konnte Deutschland 1933 keineswegs gleichgeschaltet werden zu einer einzigen „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft", wie die NS-Propaganda glauben machen wollte. Obwohl es lebensbedrohlich war, leisteten in den ersten Jahren der Diktatur zehntausende Oppositioneller, vor allem aus den Reihen der unterdrückten Arbeiterbewegung, Widerstand.

„In der Öffentlichkeit reduziert sich das Bild des deutschen Widerstands auf die Geschwister-Scholl-Gruppe 'Weiße Rose' und das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944", sagt Ulrich. Zwar habe es, gemessen an der damaligen Bevölkerung von etwa 63 Millionen (inklusive Saar-Gebiet), nur wenige gegeben, die den Mut zum Widerstand gehabt hätten. Das Münchner Institut für Zeitgeschichte habe aber in einer Untersuchung festgestellt, daß allein 130.000 Deutsche ihr Leben verloren, weil sie auf die eine oder andere Weise dem NS-Regime die Stirn boten. Der Widerstands- Historiker Peter Hoffmann schätze die Zahl gar auf eine Million. „Das ist zwar eine Minderheit, aber nicht einige wenige", findet Ulrich, „und das sind nur diejenigen, die entdeckt wurden."

Der Sozialwissenschaftler Wolfgang Abendroth habe in Bezug auf die Dunkelziffer von drei Millionen deutschen Widerstandskämpfern gesprochen. „Und davon kamen nachweislich 80 bis 90 Prozent aus der Arbeiterbewegung", sagt Ulrich.

In Wiesbaden zählten nach Angaben Ulrichs rund 50 Menschen zum Netz des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold um Georg Feller. Aktiv sei auch die Jugendgruppe der Sozialistischen Arbeiterjugend um den späteren Wiesbadener Oberbürgermeister und hessischen Landtagspräsidenten Georg Buch gewesen. Die Gewerkschaftsgruppen mehrerer Betriebe gehörten zum Widerstand: in den Städtischen Betrieben, in der Druckerei Ritter, der Firma Kalle, den Chemischen Werken Albert, in denen auch der Direktor eingeweiht war, in der Maschinenfabrik Wiesbaden und in der Deutschen Reichspost.

Wiesbaden habe auch eine besondere Verbindung zum „20. Juli" gehabt. So zum Beispiel zum Berliner Hauptmann der Reserve Hermann Kaiser, der Studienrat an der Wiesbadener Oranienschule war, und zum Generaloberst außer Dienst, Ludwig Beck, aus einer Biebricher Fabrikantenfamilie. „Er war als Staatsoberhaupt vorgesehen, wenn das Attentat auf Hitler geklappt hätte", berichtet Axel Ulrich.

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LITERATUR

Wer mehr über das Thema wissen möchte, kann nachlesen:

Peter Joachim Riedle (Hrsg.): „Wiesbaden und der 20. Juli 1944", Schriften des Stadtarchivs Wiesbaden Bd.5, Wiesbaden 1996;

Lothar Bembenek, Axel Ulrich: „Widerstand und Verfolgung in Wiesbaden 1933 - 1945", Gießen 1990;

Axel Ulrich: „Konrad Arndt - Ein Wiesbadener Gewerkschafter und Sozialdemokrat im Kampf gegen den Faschismus", IG Metall, Wiesbaden 2001;

Renate Knigge-Tesche, Axel Ulrich (Hrsg.): „Verfolgung und Widerstand 1933 - 1945 in Hessen", Frankfurt 1996.           ave

Frankfurter Rundschau - 28.1.03 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

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Widerstand gegen Hitler

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Unterdessen zerstörte der Terror die Parteistrukturen. Viele Zellen und Ortsgruppen waren isoliert, viele Mitglieder hatten den ungleichen Kampf aufgegeben. Andere saßen im Konzentrationslager oder im Gefängnis, und die Zahl der Opfer wuchs von Tag zu Tag.

So gab es - trotz einer sich allmählich wieder formierenden Opposition, mit unterstützt durch den Einsatz ausländischer Rundfunksender - selbst im letzten Kriegsjahr keinerlei Anzeichen für einen Aufstand der deutschen Arbeiterschaft gegen das Naziregime. Auch im Bombenhagel und angesichts der schwindenden Größe des Deutschen Reiches wurde die Arbeit botmäßig verrichtet. Ausländische Beobachter konstatierten ein erschreckendes Pflichtbewußtsein. Die wenigen überlebenden Widerstandskämpfer bildeten in vielen Städten vor dem Kriegsende Komitees, die die Befreier erwarteten, um mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie berieten auch über die Nachkriegsaufgaben, versuchten die Sprengung wichtiger Anlagen zu verhindern und hinderten Nazis an der Flucht. Oft bewerkstelligten sie auch die kampflose Übergabe ihrer Städte an die Befreier. Gemeinsam mit den Alliierten übernahmen diese Widerstandsgruppen dann die Neuorganisation der Verwaltung nach dem Kriegsende.

Francis L. Carsten, geboren 1911 in Berlin, Studium in Berlin und Heidelberg bis 1933. Aktiv in der sozialistischen Jugendbewegung seit 1927, ab 1933 aktive Teilnahme am sozialistischen Widerstand, bis 1935 in der illegalen Gruppe »Neu Beginnen«. Emigration Ende 1935, bis 1939 im Widerstand von Amsterdam aus, danach in England. 1942 Promotion in Oxford, seit 1947 Dozent, später Professor für neuere Geschichte an der Universität London, emeritiert 1978; seit 1971 Mitglied der Britischen Akademie der Wissenschaften. Publikationen in Deutschland: Reichswehr und Politik, 1964; Die Entstehung Preußens, 1968; Revolution in Mitteleuropa 1918-1919, 1973; Der Aufstieg des Faschismus in Europa, 1968; August Bebel und die Organisation der Massen, 1991; Eduard Bernstein, 1993. Im Suhrkamp Verlag erschien 1988 Geschichte der preußischen Junker. Weitere Veröffentlichungen in Großbritannien.

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