Beklemmender Rundgang
Stadtführung zeigt erschütternde Geschichten aus der Zeit der Nazi-Herrschaft

Von Matthias Klein

Am Rathaus hing eine große Hakenkreuzfahne. Bereits kurz nachdem Adolf Hitler an die Macht kam, gab es auch in Wiesbaden Symbole der Nationalsozialisten zu sehen. Schon im März 1933 wurde der Schloßplatz in Adolf Hitler-Platz umbenannt. Gleichzeitig wurde Hitler Ehrenbürger der Stadt Wiesbaden. „So etwas passierte zwar auch in anderen Städten", sagte Dorothee Lottmann-Kaeseler. "Aber Wiesbaden war früh dran, sehr früh sogar. Proteste von der Bevölkerung gab es nicht." Mit einem Stadtrundgang unter der Leitung Lottmann-Kaeselers erinnerte das Projektbüro Stadtmuseum an die NS-Zeit und zeigte viele furchtbare Spuren der Nationalsozialisten in der hessischen Landeshauptstadt.

Es sind Spuren, die schreckliche Geschichten erzählen. Zum Beispiel das große Haus in der Bahnhofstraße 25. Dort lebte der jüdische Rechtsanwalt Berthold Guthmann mit seiner Familie. Bereits 1938 drangen die Nazis in sein Heim ein, warfen seine Akten und das Klavier der Familie aus dem Fenster. Außerdem war der Anwalt ständigen Repressionen bei der Ausübung seines Berufes ausgesetzt. Im Juni 1943 wurde die Familie ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, der Jurist starb später im KZ Auschwitz. Sein Vater und sein Sohn überlebten den Krieg ebenfalls nicht. Vor dem Haus erinnern drei Stolpersteine an die Opfer.

In Wiesbaden lassen sich zahlreiche solcher Spuren der damaligen Zeit finden. Auch am Mauritiusplatz ist die Epoche präsent: Ein großes Haus dort gehört der jüdischen Familie Sande. Adolf Sande betrieb dort in den 1930er Jahren ein Schuhgeschäft. Wie er lebten in Wiesbaden zur Zeit der Macht-Übertragung an Hitler etwa 3.200 Juden, die in den folgenden Jahren schweren Repressionen ausgesetzt waren und zunehmend rechtlos wurden. Sande mußte schließlich emigrieren und ging nach New York. Nach und nach holte er seine ganze Familie aus dem fernen Deutschland nach - alle überlebten den Krieg. Nach Kriegsende bekamen die Sandes ihr Haus zurück. Es ist bis heute im Familienbesitz.

Nahe der Bonifatiuskirche hielt die SA Menschen gefangen und folterte sie

Nicht weit davon entfernt steht die Alte Münze auf dem Luisenplatz. Wo heute viele Menschen in Richtung Fußgängerzone eilen oder an der großen Bushaltestelle warten, befand sich 1933 ein grausamer Ort: Direkt gegenüber der Bonifatiuskirche hielt die SA Menschen gefangen und folterte sie.

An die grauenhaften Ereignisse der damaligen Zeit erinnert auch der Geschwister- Stock-Platz in der Bahnhofstraße. Die beiden Geschwister Josef und Rosel Stock wurden im Kindesalter deportiert und von den Nazis ermordet.

“Man fragt sich doch, was damals hier passiert ist", sagte Frauke Stern, die den Rundgang mitging. Die Stadtführung zeigte dies. "Wir wollten bewußt machen, daß sich die Terrorherrschaft der Nazis direkt vor Ort manifestierte, auch in Wiesbaden", erklärte Hans-Jörg Czech, der Gründungsdirektor des Stadtmuseums, die Intention. „Die Maßnahmen der Nazis reichten sehr schnell bis in den letzten Winkel Deutschlands."

Auch Sinti und Roma wurden von den Nazis verfolgt. Über 100 aus Wiesbaden wurden im März 1943 nach Auschwitz deportiert. Mehr als die Hälfte wurde ermordet. An sie erinnert nahe am Geschwister-Stock-Platz ein Denkmal.

Spuren des Nazi-Grauens finden sich in Wiesbaden viele.

Frankfurter Rundschau - 11.3.08 - mit freundlicher Erlaubnis der FR