115 Tafeln zeigen das Leben im Camp der Heimatlosen
Darmstädter Studenten haben über das Frankfurter Lager für Holocaust-Überlebende geforscht und die Ergebnisse ins Internet gestellt

Nach dem Zweiten Weltkrieg richteten die Alliierten Camps für Millionen von Heimatlosen ein. Studenten der Technischen Universität Darmstadt haben über das Leben im Lager geforscht.

Von Christian Meier

Darmstadt - Ein Ergebnis ihrer Recherchen hat eine Gruppe von Darmstädter Geschichtsstudenten besonders überrascht: Die Geburtenrate in den Camps jüdischer Holocaust-Überlebender in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war die höchste aller jüdischen Gemeinden weltweit. Für Renata Skaznik ist dies ein Zeichen für den „unglaublichen Lebenswillen", den die Überlebenden hatten." Zusammen mit zwölf Kommilitonen erforschte Skaznik, die an der Technischen Universität Darmstadt Moderne Geschichte studiert, zwei Semester lang die Geschichte eines Camps jüdischer Überlebender in Frankfurt-Zeilsheim, das von 1945 bis 1948 bestand. Jetzt präsentieren die Studenten ihre Ergebnisse in Form einer Internet-Ausstellung. Die Schau richtet sich insbesondere an Schüler.

Nach dem Zweiten Weltkrieg richteten die Alliierten in Deutschland und Österreich Displaced-Persons-Camps (DP-Camps) für Millionen von Heimatlosen ein. Sie waren von den Nationalsozialisten nach Deutschland verschleppt, als Zwangsarbeiter mißbraucht oder in Konzentrationslager gesperrt worden. Nach 1945 konnten oder wollten sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. In Zeilsheim richteten die Alliierten eines von mehreren Camps ausschließlich für jüdische Überlebende ein. Zwar wollten die meisten von ihnen Europa so schnell wie möglich in Richtung Palästina verlassen. Doch sie mußten wegen politischer und bürokratischer Hindernisse einige Jahre in den DP-Camps ausharren.

„Zwischen dem Ende des Holocaust 1945 und der Gründung des Staates Israel 1948 klafft ein schwarzes Loch. Man weiß sehr wenig über das jüdische Leben in den DP- Camps" sagt Susanne Urban von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Sie betreute das studentische Forschungsprojekt als Lehrbeauftragte. „Die Studierenden haben sich in den jüdischen Mikrokosmos des DP-Camps Zeilsheim hineingezoomt."

Nach einem Semester hatten die Studierenden acht Leitz-Ordner mit Material aus Zeitungen, Tagebüchern und Archiven sowie über 200 Fotos gesammelt. Die Fotos stammen größtenteils von einem Bewohner des Camps Zeilsheim. Der Fotograf Ephraim Robinson hatte das Alltagsleben im Camp ausführlich dokumentiert: Bäcker und Metzger bei der Arbeit, Kinder im Schulunterricht, Fußballspiele, Hochzeiten oder die Redaktionsmitglieder von „Unterwegs", der Zeitung des Camps Zeilsheim. Das Fotoarchiv des Holocaust-Memorial-Museum in Washington hat den Darmstädter Studenten die Robinson-Bilder kostenlos zur Verfügung gestellt. Viele von ihnen sind in der Internet-Ausstellung zu sehen. Finanzielle Unterstützung erhielten die jungen Forscher von der Sparkasse Darmstadt.

„Mit den Fotos wollten wir den Menschen ein Gesicht geben" sagt die Studentin Daniela Decker. Die Internet-Ausstellung könne von Lehrern sowohl als Ganzes für den Geschichtsunterricht genutzt werden, als auch in Teilen in den Unterricht anderer Fächer eingebaut werden. „Wenn man im Unterricht die Pressefreiheit behandelt, kann man anhand der Geschichte der DP-Camps anschaulich machen, was es für Menschen bedeutet, eine eigene Presse zu haben", sagt Decker. Die Ausstellung ist in zwei Ebenen aufgeteilt: Die erste enthält die eigentliche Ausstellung mit 115 Tafeln und mehr als 100 Bildern. Die zweite Ebene bildet die Basis der ersten und bietet ein Archiv mit Dokumenten, vertiefenden Texten, Bildern und Zitaten.

Recherche im Team

Für sich selbst haben die 13 Studenten nicht nur gelernt, im Team zu arbeiten, zu recherchieren, Interessantes unter Zeitdruck aus dem Material auszuwählen und anschaulich darzustellen. Sie haben ein tieferes Verständnis für die Entstehung des Staates Israel gewonnen. „Uns hat am meisten beeindruckt, wie die Menschen es schafften, ihre Kultur weiterzuleben" sagt Renata Skaznik. „Obwohl ihre Mittel sehr knapp waren, haben sie eine eigene Presse aufgebaut, Theater gespielt und ein Netzwerk zwischen den Camps geschaffen." Diese Mentalität habe es möglich gemacht, dass die Holocaust-Überlebenden einen eigenen Staat geschaffen hätten, sagt Skaznik.
DP-Camp in F-Zeilsheim

Das Camp in Frankfurt-Zeilsheim war für viele jüdische Holocaust-Überlebende erste Anlaufstelle nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

http://www.geschichte.tu-darmstadt.de/ueberlebend

Frankfurter Rundschau - 6.2.07 - mit freundlicher Erlaubnis der FR