PORTRÄT DER WOCHE
Die Unbeugsame
Von Astrid Ludwig

Wenn Christine Wittrock in diesen Tagen aus dem Fenster ihres Arbeitszimmers blickt, liegt vor ihr nicht mehr, wie so viele Jahre zuvor, das triste Novembergrau eines winterlichen Gartens in Nidderau im Main-Kinzig-Kreis. Die Historikerin hat eine neue Heimat gewählt und seitdem umfängt sie das tiefe Blau des Atlantiks. In der Sonne der spanischen Insel La Palma hat sie in den vergangenen Monaten ihr Buch über die Nazizeit in Schlüchtern und Steinau im östlichen Main-Kinzig-Kreis fertig gestellt, an dem sie zweieinhalb Jahre geforscht und geschrieben hat und das seit Freitag im Buchhandel erhältlich ist.

Unter dem Titel „Saubere Geschäfte, weiße Westen und Persilscheine" hat die 54-Jährige die Geschichte der jüdischen Seifenfabriken in Schlüchtern und Steinau seit Anfang des 19. Jahrhunderts zusammengetragen. Eine Historie, die von den sozialistischen, Reform getragenen Ansätzen des Unternehmers Max Wolf und seiner Dreiturm-Fabrik in Schlüchtern in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts berichtet, von der Enteignung durch die Nazis und der Leidensgeschichte der Brüder und ihrer Familien. Ein „Polit- und Wirtschaftskrimi", wie sie betont, und eine „Abrechnung", denn der Jude Max Wolf war wegen seiner roten Ideen schon lange Zielscheibe der Nazis gewesen.

Geforscht hat die ehemalige Nidderauerin im Auftrag der Stadt Schlüchtern. Ein Jahr lang auf der Basis einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Danach arbeitete und recherchierte sie auf eigene Kappe und Kosten weiter. „Ich wollte einfach ein gutes Buch vorlegen", sagt sie und das vor allem auch, weil der Sohn der Dreiturm-Dynastie, Gerhard Wolf, den Naziterror als Flüchtling in England überlebt hat. Der heute 83-Jährige hat Christine Wittrock bei ihren Forschungen unterstützt.

Dass die Aufarbeitung der Heimatgeschichte zu einem politischen Minenfeld werden kann, hat die zierliche, aber unerschrockene Historikerin früh erfahren. Immer ist es ihr Anliegen gewesen, den Tätern nachzuspüren und ihre Namen und Missetaten auch in ihren Büchern zu nennen. „Ich will zeigen, dass der Faschismus in der Provinz stattgefunden hat, wo viele persönlich beteiligt waren", sagt sie.

Das hat ihr viele Kontroversen eingebracht, denen sie ungebeugt begegnet ist. Zunächst 1999 mit ihrem Buch „Das Unrecht geht einher mit sicherem Schritt" über die Geschichte der Nazizeit in Langenselbold, wo sie die NS-Machenschaften des Bauunternehmers und späteren Ehrenbürgers der Stadt, Wilhelm Kaus, aufgedeckt hat. Über Monate zogen sich die gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den Erben Kaus hin, die Passagen in ihrem Buch schwärzen lassen wollten.

Daraus entstand eine Auseinandersetzung mit dem Landrat des Kreises, Eyerkaufer (SPD), der die Drucklegung des Wittrock-Buches wegen Drohungen der Erben stoppen ließ, obwohl es der Kreis war, der die Historikerin Wittrock mit der Forschung beauftragt hatte.

Christine Wittrock fand im Hanauer Con-Verlag einen unerschrockenen Herausgeber, der nunmehr ebenso ihr Schlüchterner und Steinauer Buch verlegt. Dass die Historikerin mit ihren neuen Buch in Schlüchtern „mehr Unheil anrichtet als sie zur Wahrheitsfindung", hatten ältere CDU-Mitglieder in der Stadt Schlüchtern befürchtet, als die Stadt den Auftrag an sie vergab. Für die Historikerin nichts Neues, vertritt sie doch die Meinung, „dass die heute 60-70-Jährigen die Lebenslüge ihrer Eltern meist noch teilen". Die Wahl-Spanierin hat bereits ein neues Buchthema im Blick. Diesmal will sie die NS-Geschichte des Nachbarortes Gelnhausen erforschen. Archivmaterial hat sie schon gesichtet.

Frankfurter Rundschau - 9.11.02 - Bild: Kuhlmann - mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Rundschau
23.6.05