100 Jahre Wachstum: Elf eingemeindete Dörfer machten Frankfurt zur Großstadt. Eine Landnahme war das nicht, sondern ein Geschäft auf Gegenseitigkeit

1910, eine Zeitenwende
Oberbürgermeister Adickes stellte die Weichen für die Expansion von Handel und Industrie

Von Matthias Arning

Man kann sich das nicht wie eine Landnahme vorstellen. Von einer solchen Sicht der Dinge rät Evelyn Brockhoff ausdrücklich ab: Frankfurt sei damals nicht wie ein Meeresungeheuer über angrenzende Dörfer hergefallen. Vielmehr habe die Stadtregierung schon vor dem 1. April 1910 reichlich Land im Umland gekauft, berichtet die Leiterin des Instituts für Stadtgeschichte im Gespräch mit der FR. Damit habe der damalige Oberbürgermeister Franz Adickes einen Prozesses in Gang gesetzt, der allein ein kommunalpolitisches Ziel gekannt habe: „Großstadt zu werden".

Dieser Adickes. Ein standesgemäß gekleideter Mann mit langem weißem Bart. So hat der Künstler Max Liebermann das Stadtoberhaupt porträtiert und sein Gemälde auf das Jahr 1911 datiert. Vier Jahre später tragen Frankfurter Adickes auf dem Hauptfriedhof in einem langen Zug zu Grabe. In einem würdevollen Akt der Trauer, motiviert aus aufrichtiger Hochachtung, aus Respekt vor einem Mann, der den Schwung seiner Vorgängers Johannes Miquel von 1890 an für mehr als ein Jahrzehnt im Dienste der Kommune zu nutzen wußte: Nachdem Miquel, der Frankfurt verließ, um als Nationalliberaler Finanzminister in Preußen zu werden, mit der Kanalisierung des Mains und dem Bau des Hauptbahnhofs die Weichen für eine rasante Entwicklung gestellt hatte, setzte Adickes vor allem auf räumliche Expansion. Ihn interessierte allein, wie sich wohl eine große Stadt würde bauen lassen.

Es begann eine Schlüsselphase der Entwicklung. Noch 1866 gab es nur 76.000 Einwohner.

Für Historiker steht der Name Franz Adickes heute für „eine Schlüsselphase" in der Entwicklung Frankfurts. Der 1846 in Harsefeld bei Stade geborene Jurist, der sich für die Kommunalpolitik entschied, entwarf für die um 1866 gerade mal 76.000 Einwohner zählende Stadt am Main einen vorbildlichen Masterplan.

Damit gab er Frankfurt, dieser bereits 1877 mit Bornheim, 1895 mit Bockenheim, 1900 mit Seckbach, Oberrad und Niederrad rasch gewachsenen Kommune, eine Perspektive: Gemeinsam mit dem Gründer der Metallgesellschaft, Wilhelm Merton, engagierte sich Adickes für die dann 1914 realisierte Gründung der Goethe-Universität und sorgte mit der Ausweisung neuer Wohngebiete dafür, daß städtische Gründer zum Zug kamen - im Westend wie im Nordend bis hinaus zur zweiten Ringstraße, dem Alleenring, von dem ein Teil heute den Namen von Adickes trägt.

Diese Achse sollte alles andere als eine Grenze für die Expansion der bis dahin vor allem auf den Handel bauenden Stadt sein. An das Netz europäischer Wasserstraßen suchte Frankfurt Anschluß mit dem Bau des Westhafens wie mit dem wenige Jahre später entstandenen Osthafen.

Fortan ging es für die Stadtregierung mit der Aussicht auf eine rasche Industrialisierung darum, Wohngebiete zu schaffen. Etwa die Wiesenau nahe des neuen Stadtteils Niederursel und die Gartenstadt in Eschersheim. Beide Siedlungen entstehen im ersten Jahrzehnt in unmittelbarem Zusammenhang mit der architektonisch überaus reizvollen Arts-and-Craft-Bewegung, die sich von der britischen Insel aus rasch verbreitete - mit dem Vorhaben, für Arbeiter, kleine Angestellte und führende Kräfte gleichermaßen Wohnraum zu schaffen. Auf der Margaretenhöhe in Essen für Krupp-Arbeiter, in der Siedlung Wiesenau für Mitarbeiter der Metallgesellschaft.

Die Stadt verpflichtete sich dem Gedanken an den Fortschritt. Was diese geradezu euphorisch vorgetragene Idee bedeutete, erlebten die Frankfurter bereits 1891 mit der elektrotechnischen Ausstellung. Die Leistungsschau vermittelte einen Eindruck davon, was im wachsenden Stadtgebiets via Elektrifizierung möglich würde. Entsprechende Zusagen machte Adickes in den Verträgen, die vor dem Stichtag 1. April 1910 mit Vertretern von Rödelheim, Hausen, Praunheim, Heddernheim, Ginnheim, Eschersheim, Eckenheim, Preungesheim, Niederursel, Bonames und Berkersheim geschlossen wurden.

Neben der Versorgung mit Strom und dem Anschluß an das Kanalsystem regelten die Kontrakte, daß Möglichkeiten des Schlachtens in den Dörfern nur noch über ein Jahrzehnt vorzuhalten seien, danach der Zwang bestehe, das Vieh ins zentrale Schlachthaus zu bringen. Gleichzeitig verpflichtete sich Frankfurt dazu, vom Stichtag aus die Gehälter und Pensionen örtlicher Lehrer und Beamter zu übernehmen.

Über Verabredungen hinaus, Verbindungsstraßen zu bauen und Dorfstraßen zu asphaltieren, machte der Frankfurter Magistrat den Hinzukommenden weitere Versprechen: So sollte es „bis möglichst zum 1. April 1915 für Eckenheim ein Volksbrausebad" geben. In dem im Stadtarchiv dokumentierten Kontrakt mit Eschersheim verpflichtete sich Frankfurt dazu, „eine sechsklassige Realschule" zu errichten und bei der „Königlichen Eisenbahndirektion dahin zu wirken, daß ein Ausbau des Personenbahnhofs Eschersheim baldigst in Angriff genommen wird". Am Lindenbaum wolle man „einen Schmuckplatz" anlegen.

Die Ginnheimer sollten dem Vertrag zufolge damit rechnen können, „binnen anderthalb Jahren eine Trambahn" in Richtung „östlich des Palmengartens" zu bekommen. Eine Anbindung stellte man auch den Hausenern in Aussicht. Während die Niederurseler der Stadtregierung die Zusage abringen konnten, daß sich „die Stadt Frankfurt verpflichtet zur Unterhaltung der Zuchtbullen, des Zuchtebers und des Zuchtziegenbocks".

Für alle neuen Stadtteile war die Regulierung der Nidda von zentraler Bedeutung. Damit sollten die Zeiten des Hochwassers vorbei sein - wenn nicht doch die Moderne als Meerungeheuer über die bis dahin selbstständigen Dörfer hinweg gehen würde.

 

EINGEMEINDUNGEN

Von 1877 an erweitert Frankfurt in verschiedenen Phasen der Eingemeindung sein Stadtgebiet. Nach Bornheim kommen 1891 das Sandhofgelände, 1895 Bockenheim und 1900 Niederrad, Oberrad und Seckbach hinzu.

Das Jahr 1910 ist in diesem Zusammenhang ein ganz besonderes Datum: Zum 1. April wächst die Stadt um Rödelheim, Hausen, Praunheim, Heddernheim, Ginnheim, Eschersheim, Eckenheim, Preungesheim, Niederursel, Bonames und Berkersheim.

Zur raschen Industrialisierung trägt dann die Eingemeindung von Fechenheim und Höchst bei: Mit dem östlichen Stadtteil gehört künftig das Unternehmen Cassella nach Frankfurt. Mit dem Stadtteil Höchst kommen die gleichnamigen Farbwerke dazu. Beide Unternehmen der chemischen Industrie bringen tausende Industriearbeitsplätze, die Frankfurt zu einem wichtigen Chemie-Standort machen.

Die Regionalstadt, die nach damaligen Plänen von Bad Homburg bis Rüsselheim hätte reichen sollen, kommt zu Beginn der 1970er Jahre nicht zustande. In diesem Zusammenhang gewinnt Frankfurt in der vorerst letzten großen Welle die nördlichen Stadtteile.

Frankfurter Rundschau - 20.2.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Der springende Punkt für all die klagenden Leute aus dem Frankfurter Umland: “Eine Landnahme war das nicht, sondern ein Geschäft auf Gegenseitigkeit.” Was zu beweisen war...