Endstation Theresienstadt
In der Nacht auf den 1. September 1942 wurden 365 Menschen verschleppt / Lesung mit Carmen Renate Köper

Von Jana Kinne

Ein Schild mit ihrem Namen hatten sie um den Hals, in den Händen nichts als einen Koffer und 50 Mark. In der Nacht vom 31. August auf den 1. September 1942 mußten sich 365 meist ältere jüdische Männer und Frauen vor der Synagoge in der Friedrichstraße versammeln. In ein Altersheim würden sie gebracht, sagten ihnen die Nazis. Die Kosten dafür sollten sie selbst mit 50 Mark begleichen. Die Realität sah jedoch anders aus: Die letzte große Deportation Wiesbadener Juden endete für die meisten der Männer und Frauen im Konzentrationslager Theresienstadt.

Aktives Museum gedenkt

„Die Erinnerung an diese schrecklichen Ereignisse muß erhalten bleiben", sagt Angela Wagner-Bonar vom Aktiven Museum Spiegelgasse. Das Museum, das sich mit Gedenkblättern, Stolpersteinen, Ausstellungen und zahlreichen Veranstaltungen für Erinnerungskultur in Wiesbaden einsetzt, lud für Mittwoch, 15. September, gemeinsam mit dem Literaturhaus Villa Clementine zu einer Veranstaltung zum Gedenken an die Deportationsopfer ein. Die Schauspielerin Carmen Renate Köper las Texte der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler.

Zwischen den beiden Frauen lassen sich Parallelen ziehen: Beide setzten sich in ihren Werken intensiv mit dem Holocaust auseinander. Köper drehte Filme mit dem Titel „Erinnern für die Zukunft". Else Lasker-Schüler thematisierte die Judenverfolgung in ihren Texten. Beide Frauen haben auch eine Verbindung zu Wiesbaden: Köper spielte als junge Frau am Staatstheater. Lasker-Schüler lernte 1939 im Exil in Haifa den Wiesbadener Schriftsteller Sally Großhut kennen. „Die Begegnung mit ihm und die jüdische Herkunft der Dichterin sind Thema in den Texten, die Frau Köper liest", sagt Wagner-Bonar.

In Wiesbaden führte der Weg der Männer und Frauen, an die die Worte der Dichterin erinnern sollen, von der Synagoge in der Friedrichstraße aus die Friedrichstraße entlang in Richtung Schillerplatz. Dann bogen die Männer und Frauen in die Bahnhofsstraße ab und wurden von den Nazi-Schergen zur Schlachthoframpe gebracht. Ein Mahnmal steht heute dort, wo der Zug nach Theresienstadt abfuhr.

Der älteste Mann, der in den Todeszug einsteigen mußte, war bereits 92 Jahre alt. Er starb wenige Tage nach der Ankunft im Lager. 200 seiner Mitreisenden kamen ebenfalls in Theresienstadt zu Tode, 85 starben in Auschwitz und 74 in Treblinka. Nur fünf der Wiesbadener überlebten. Insgesamt wurden 1507 Wiesbadener Juden in den Jahren zwischen 1935 und 1945 von den Nazis ermordet. Ihre Namen sollen am Mahnmal Michelsberg verewigt werden. „Wir wollen der Opfer gedenken, damit sie in unserer Erinnerung lebendig bleiben", sagt Wagner-Bonar.

Die jüdische Gemeinde in Wiesbaden wurde kurz nach dem Krieg wieder aufgebaut. Chanukka 1946 war die offizielle Gründung. Heute zählt die Gemeinde rund 780 Mitglieder.

Zeittafel

28. Oktober 1938 Ausweisung von rund 95 polnischen Juden an die deutsch-polnische Grenze. Es handelte sich um eine reichsweite Abschiebung, von der insgesamt 17.000 Menschen betroffen gewesen sein sollen.

10. bis 16. November 1938 Deportation von 35 Juden in Folge der Pogromnacht nach Buchenwald und Dachau. Ziel der Verschleppung war es, die Häftlinge nach der Freilassung dazu zu bringen, ihre Vermögen aufzugeben und auszuwandern.

25. Mai 1942 27 jüdische Männer, Frauen und Kinder wurden nach Izbica in Ostpolen deportiert und vermutlich in Sobibor mit Autoabgasen ermordet.

10. Juni 1942 Keiner der 371 Juden überlebte die Deportation, die für die meisten der Männer, Frauen und Kinder in Sobibor endete.

1. September 1942 Hauptsächlich ältere jüdische Männer und Frauen mußten sich an der Schlachthoframpe versammeln und wurden nach Theresienstadt gebracht. Von den 365 Wiesbadenern überlebten nur fünf.

1942-1945 Nach den Deportationen im Jahr 1942 gab es in Wiesbaden nur noch Juden, die in „Mischehen" lebten. Sie wurden einzeln inhaftiert und meist nach zwei Wochen in ein Konzentrationslager gebracht.

14. Februar 1945 Die Nazis deportierten 23 jüdische Männer, Frauen und Kinder nach Theresienstadt. Alle konnten nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland Anfang Mai befreit werden. prjak

Frankfurter Rundschau - 1.9.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR