Das Haus in der Hermannstraße 26, Wiesbaden
Ein neues Buch berichtet über den Wiesbadener Alltag während des Dritten Reiches

Von Mirjam Ulrich

Manchmal brennen sich gerade die kleinen Gehässigkeiten für immer ins Gedächtnis. „Jud, Jud, Jud", riefen die kleinen Nachbarskinder oft Arthur Ackermann, dem Hausbesitzer der Hermannstraße 26, entgegen, wenn er in den Hof kam. Gerhard Schmitt-Rink gehörte nicht zu diesen Kindern, doch er erinnert sich noch lebhaft an jene Fünf- bis Siebenjährigen. Der gebürtige Wiesbadener ist dort aufgewachsen, im Hinterhaus, wo die einfachen Arbeiter wohnten.

Die Gestapo und das Wohnungsamt führten das Haus an der Hermannstraße als „Judenhaus" (siehe Kasten). Wie in fast allen der 42 „Judenhäuser" in Wiesbaden lebten in dem Haus im Westend aber nach wie vor auch nichtjüdische Familien - eine war die von Schmitt-Rink. Von diesem Zusammenleben unter einem Dach, dem Wiesbadener Alltag und dem Leben im falschen erzählt er in seinem Buch „Das Judenhaus", das Mitte November erscheint.

Bilder sollen korrigiert werden

Er möchte den Namen, die auf den Wiesbadener Opferlisten auftauchen, ein Bild der Menschen zugesellen, die diese Namen trugen, sagt er. Außerdem wolle er das Bild von den wohlhabenden und erfolgreichen deutschen Juden etwas zurechtrücken. „Es entspricht ja nicht der allgemeinen Vorstellung, dass Juden auch ganz arme Leute gewesen sein können - und obendrein Kommunisten."

Der 82-jährige Wirtschaftsprofessor, der lange in den USA lehrte und mit der verstorbenen FDP-Politikerin Margret Funke-Schmitt-Rink verheiratet war, hat 16 Ökonomiebücher verfasst. Dieses Buch bezeichnet er jedoch als sein wichtigstes. Denn darin setzt er nicht zuletzt auch seinen jüdischen Verwandten, die als Besucher in dem Haus ein- und ausgingen, ein Denkmal.

Zu ihnen pflegte seine Mutter Emma engen Kontakt. Schon als junge Frauen engagierten sich Emma und ihre Schwester Lina in der kommunistischen Partei. Dort verliebten sich beide in zwei jüdische Brüder. Während Lina ihren Freund Walter Löwenberg heiratete, trennte sich Emma später. 1926 brachte die ledige Frau einen Sohn zur Welt, den sie Willy nannte. Da Emma arbeiten mußte, passten die Löwenbergs tagsüber auf ihn auf.

Später heiratete seine Mutter Johann Schmitt, einen arbeitslosen Radiotechniker, der Willy adoptierte. Mitte 1934 bezog die Familie eine kleine Hinterhofwohnung in dem Haus an der Hermannstraße. Im Vorderhaus wohnten Beamte und Angestellte. Kleinbürger, die ihren Kindern verboten, mit den Kindern aus dem Hinterhaus zu spielen. Wie in der Verwandtschaft spielte im Haus die Klassenfrage eine Rolle, die der Religionszugehörigkeit hingegen kaum. Doch von 1935 an veränderte sich der Umgang der Hausbewohner untereinander spürbar, erinnert sich Schmitt-Rink. Viele mieden nun ihre jüdischen Nachbarn, manche verhielten sich sogar gemein.

Auch der junge Willy geriet unter den Einfluss der NS-Propaganda in der Schule und in den Medien. Als armes Arbeiterkind beeindruckte ihn die „neue Zeit", die Aufstiegschancen unabhängig von der sozialen Herkunft versprach. Damals legte Willy sich auch den „germanischer" klingenden Vornamen Gerhard zu.

Nur der Onkel kam zurück

Der Teenager glaubte an ein „kapitalistisches Weltjudentum", schwadronierte davon sogar gegenüber seinen jüdischen Verwandten. Während die nachsichtig reagierten, hielt seine Mutter stets dagegen. Wie sie es dann schaffte, Zweifel in dem Jungen zu wecken, so dass er begann, nachts heimlich BBC zu hören und sich somit eine eigene Meinung zu bilden, schildert er ebenfalls in seinem Buch. „Ich habe es für junge Leute geschrieben", sagt Schmitt-Rink über sein Werk. Er hofft, dass es in der Zukunft als Lektüre an Wiesbadener Schulen verwendet wird.

Nicht nur die Opfer erhalten darin wieder ein Gesicht, sondern auch die Täter - wenn auch unter geänderten Namen. Einige Hausbewohner bereicherten sich direkt am Eigentum ihrer jüdischen Nachbarn. Sie übernahmen deren Wohnungen, mit allem, was sich darin befand, nachdem die Juden 1942 deportiert worden waren. Dasselbe Schicksal erlitten auch seine sämtlichen Verwandten, die Juden waren oder als solche galten. Nur sein Onkel Walter Löwenberg kehrte aus dem KZ Dachau nach Wiesbaden zurück.
Gerhard Schmitt-Rink

Autor Gerhard Schmitt-Rink hat seine Kindheitserinnerungen aufgeschrieben.

ERZWUNGENE HAUSGEMEINSCHAFT

Gestapo und Wohnungsamt bezeichneten Häuser aus vormals jüdischem Besitz als „Judenhäuser". Dort wurden zwangsweise jüdische Mieter eingewiesen und lebten in diesen Häusern unter engsten Bedingungen, bis zu ihrer Deportation.

Der Zweck solcher Häuser war es, die Kontrolle über die jüdischen Einwohner zu erleichtern und somit andernorts Wohnraum für Nichtjuden zu schaffen.

Die Behörden konnten nur frei werdende Wohnungen dafür nutzen und keine Mieter zum Auszug zwingen. In Wiesbaden gab es 42 solcher Häuser. Anfang 1940 waren nur in fünf der Häuser alle oder fast alle Wohnungen mit jüdischen Familien oder Einzelpersonen belegt. 1942 gab es keines, das nur von Juden bewohnt war.

Das Buch „Das Judenhaus. Erinnerungen an Juden und Nichtjuden unter einem Dach 1933 - 1945" von Willy Rink erscheint am 15. November als Band IV der Schriftenreihe „Begegnungen" des Aktiven Museums Spiegelgasse (AMS). Es kostet 8 Euro und ist erhältlich im AMS und im Buchhandel. www.am-spiegelgasse.de

Frankfurter Rundschau - 29.10 .08 - mit freundlicher Erlaubnis der FR