Mehr als ein Kleinstaat
Hessen ist über die Jahrhunderte gewachsen
Von Erwin Krauser

Hessen hat von Haus aus das Zeug zu etwas mehr als einem Kleinstaat, es gibt einen Stamm, ein Volk der Hessen, es gibt eine wirkliche hessische Geschichte. Das Land ist aber durch die Ungunst seiner geschichtlichen Schicksale auf der Übergangsstufe von dem Kleinstaat zum größeren Staate stehengeblieben." Zu dieser Erkenntnis kam Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl bereits 1855 im Buch Land und Leute. Und Hessen hat weiter Geschichte gemacht. Der bevorstehende Jahrtausendwechsel (genau genommen ist er erst am 31. 12. 2000) kann ein Anlaß sein, innezuhalten, zurückzublicken.

Die Geschichte des Landes — wenn man Hessen als selbstständiges Gebiet betrachtet — beginnt in der Mitte des 13. Jahrhunderts. Von da an bestand 300 Jahre ein ungeteiltes Hessen unter den hessischen Landgrafen. Erst nach dem Tod Philipps des Großmütigen (1567) wird es unter seinen vier ehelichen Söhnen aufgeteilt in Hessen-Kassel (Wilhelm IV.), Hessen-Marburg (Ludwig), Hessen-Darmstadt (Georg), Hessen-Rheinfels (Philipp der Jüngere).

In der Folgezeit halten sich nur die Landgrafenlinien Darmstadt und Kassel, nachdem Philipp der Jüngere und Ludwig kinderlos gestorben sind. Die Erbteilung von 1568 jedenfalls hat die bis ins 18. Jahrhundert fortdauernde territoriale Zersplitterung Hessens in zahlreiche Herrschaftsbereiche bewirkt und auch den bis in das 20. Jahrhundert hineinwirkenden Dualismus zwischen Hessen-Kassel (Nordhessen) und Hessen-Darmstadt (Südhessen) begründet.

Der Dreißigjährige Krieg (1618—48) wird innerhessisch als Streit zwischen dem calvinistischen Hessen-Kassel und dem lutherischen Hessen-Darmstadt ausgefochten, mit unterschiedlichen Bündnispartnern („Hessenkrieg"). Während sich Hessen-Darmstadt noch viele Generationen danach nicht erholt hat, verzeichnet Hessen-Kassel einen bedeutenden Aufschwung, den es sowohl seinen politisch geschickten Regenten als auch seiner militärischen Leistungsfähigkeit verdankt. Das durch den Krieg zerstörte und teilweise entvölkerte Hessen nimmt Neusiedler aus den Alpenländern, der Wallonie und französische Hugenotten auf.

Landgraf Karl von Hessen-Kassel verfügt neben seiner Leibgarde zu Pferde über 18 Kompanien zu Fuß und vier zu Pferde. 1677 gehen erstmals hessische Truppen in fremde — dänische — Dienste. Auch seine Nachfolger (wie andere deutsche Fürsten ebenfalls) schließen Subsidienverträge. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg (1776—1783) kämpfen 17 000 hessische Soldaten für England. „Ab nach Kassel" ist eine Redensart, die sich erhalten hat.

Der Kammerdiener in Schillers Kabale und Liebe sagt zu Lady Milford: „Es traten wohl so etliche vorlaute Burschen vor die Front heraus und fragten den Obersten, wie teuer der Fürst das Joch Menschen verkaufe? — Aber unser allergnädigster Landesherr ließ alle Regimenter auf dem Paradeplatz aufmarschieren und die Maulaffen niederschießen. Wir hörten die Büchsen knallen, sahen ihr Gehirn auf das Pflaster spritzen, und die ganz Armee schrie: Juchhe! Nach Amerika!"

Anfang des 19. Jahrhunderts verändert sich die Landkarte wesentlich. Mit dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 werden die geistlichen Fürstentümer aufgelöst. 1806 setzt die Rheinbundakte, nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches, die „Gebietsreform" fort und gliedert viele der bislang selbstständigen kleineren Grafschaften und Fürstentümer den neugebildeten Bundesstaaten an. Die Landgrafschaft Hessen-Darmstadt wird zum Großherzogtum erhoben, das Herzogtum Nassau neu geschaffen. Kurhessen wird für einige Jahre Teil des Königreichs Westfalen, das Napoleon für seinen jüngsten Bruder Jerome schuf und das dieser von Kassel aus regiert.

Napoleons  staatliche Neuschöpfungen sind Episode geblieben. Aber von ihm war der Anstoß ausgegangen, die bunte deutsche Landkarte zu vereinfachen und sich dabei rücksichtslos über die beharrenden, zersplitternden Kräfte der geschichtlichen Landschaften hinwegzusetzen.

Die Grenzen des 1813 rekonstruierten Kurhessen, des Großherzogtums Darmstadt und des Herzogtums Nassau werden auf dem Wiener Kongreß (1815) bestätigt. Kleinere Gebietsteile entfallen auf die Freie Stadt Frankfurt, das Fürstentum Waldeck-Pyrmont und die Landgrafschaft Hessen-Homburg. Der preußisch-österreichische Krieg (1866), in dem sich die drei großen hessischen Staaten für das unterlegene Osterreich engagieren, führt zu massiven territorialen Veränderungen.

Kurhessen, Nassau und Frankfurt werden von Preußen annektiert und 1868 zur neuen preußischen Provinz Hessen-Nassau zusammengefasst, während das Großherzogtum Hessen-Darmstadt seine staatliche Eigenständigkeit behalt. Letzterem zugeschlagen werden die ehemals geistlichen linksrheinischen Gebiete mit Mainz und Worms („Rheinhessen").

Volksstaat und Gaue

Auch im 20. Jahrhundert ein Hin und Her. Aus dem Großherzogtum Hessen- Darmstadt wird nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) der Volksstaat Hessen mit Darmstadt als Sitz von Landtag und Regierung (seine Provinzen heißen Starkenburg, Oberhessen, Rheinhessen). Am 12. 12. 1919 tritt die Verfassung des Volksstaates in Kraft. Hessen-Nassau bleibt auch während der Weimarer Republik preußische Provinz.

Dann die Nazis. Unter ihrer Herrschaft wird der Volksstaat Hessen mit Frankfurt und dem ehemaligen Nassau zum „Gau Hessen-Nassau" und Nordhessen zum „Gau Kurhessen". Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Reichs proklamiert die amerikanische Besatzungsmacht am 19. 9.1945 das neue Land „Groß-Hessen". Das Territorium umfasst die ehemalige Provinz Hessen-Nassau und den Volksstaat Hessen; die linksrheinischen Gebiete sowie Teile des Westerwalds und der Unterlahn fallen weg. Und erster Chef der Staatsregierung, von den Amerikanern eingesetzt, wird Karl Geiler, ein Professor für Wirtschaftsrecht.

Aus der vollständigen militärischen, politischen und moralischen Niederlage des deutschen Volkes erwächst ein neuer mitteldeutscher Staat. Wesentlich stützt sich die Neugründung auf Empfehlungen des Heidelberger Staatsrechtlers Professor Anschütz und den bereits 1920 unterbreiteten Vorschlag des Mitschöpfers der Weimarer Verfassung, Hugo Preuß, ein Großhessen zu errichten - was damals an der preußischen Opposition scheitert. Die Schaffung Hessens in den heutigen Grenzen wird in der ganzen Besatzungszeit als „eine der glücklichsten und populärsten Handlungen der amerikanischen Militärregierung" bezeichnet, die übrigens auch von der Bevölkerung einmutig vertreten wird - und auch heute noch wird .

Mit der neuen territorialen Gestalt wurden die hessischen Lande erst einmal befriedet - ob das auch im 21. Jahrhundert so bleibt, ist auf Grund jahrhundertelanger Erfahrungen zweifelhaft. Die neue Verfassung, die am 1. 12. 1946 von den Bürgern in einem Volksentscheid angenommen wird, weist den richtigen Weg, ist ein Bekenntnis zur Demokratie. Und die Vorkämpfer für Recht und Freiheit in hoffnungslosen Tagen wie Georg Büchner und Ludwig Weidig Anfang des 19. Jahrhunderts oder die Widerstandskampfer wie Wilhelm Leuschner und Ludwig Schwamb sähen sich heute vermutlich bestätigt - bei einer Verfassung, die sich auf Freiheit, Menschenwürde und Menschenrechte, auf Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit gründet.

Der hessischen Bevölkerung ist mit diesem Staat eine Verantwortung übertragen worden, die tief in ihrer Landschaft und ihrer Geschichte begründet liegt: sie bildet die lebende Klammer zwischen dem Norden und dem Süden sowie - heute stärker denn je - zwischen dem Westen und dem Osten. Das Schlusswort, im 19. Jahrhundert verfasst, hat Kulturhistoriker Wilhelm Heinrich Riehl: „Das Hessenland hat eine geschichtliche Aufgabe auf der Karte Deutschlands.”

Frankfurter Rundschau - 1.2002 - mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Rundschau
23.6.05

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