Erinnerung an Folter und Tod
Wiesbadener Stadtspaziergang zum ehemaligen Außenkommando des Konzentrationslagers Hinzert

Von Eva-Marie Stegmann

Es ist kalt in dem Bunker. Vor zwanzig Minuten schritt die 13-köpfige Gruppe die steinernen Stufen gen Erdboden. Eine junge Frau bibbert unter ihrer dünnen Strickjacke. „Und jetzt stellt euch mal vor, wie das ist", schallt Axel Ulrichs Stimme durch das Gemäuer, „stellt euch vor, wie es sich anfühlt, wenn man gefesselt ist, kniet, auf diesem Boden."

Er deutet mit dem Zeigefinger auf den weißen Beton. Jetzt ist die Foltermethode aus der SS-Zeit an der Reihe. 13 stumme Augenpaare folgen ihm. „Nach zehn Minuten beginnen die Knie zu schmerzen." Nach 30 Minuten der Rücken. „Irgendwann wandert der Schmerz durch den ganzen Körper", beschreibt der Historiker weiter. Seine Worte sind so eindringlich, als erinnere er sich an selbst Erlebtes. „Du wirst müde. Doch du darfst nicht einschlafen, nicht nach vorne sacken. Die Fesseln würden dich zu Tode strangulieren."

Während Axel Ulrich die Gruppe durch den Bunker aus SS-Zeiten führt, strahlt über der Erdoberfläche die Sonne zwischen hohen Eichen. Die Eichen, der Bunker, das ist alles. Alles, was von dem Konzentrationslager geblieben ist, das 1944 als Außenkommando des KZ Hinzert in Wiesbaden „Unter den Eichen" errichtet wurde.

Der unterirdische Betonbunker sollte SS-Männer vor Luftangriffen schützen

Die SS befürchtete damals Bombardierungen von alliierten Fliegern und ließ deshalb von Kriegsgefangenen, vor allem luxemburgischen Widerstandskämpfern, diese Ausweichmöglichkeit am Stadtrand bauen. Mit dem Ende des Naziregimes 1945 fand auch das Lager sein Ende. Übrig ist nur der unterirdische Betonbunker, der SS-Männer vor Luftangriffen schützen sollte. 1991 als Gedenkstätte eingerichtet, informieren dort heute 17 Tafeln Besucher über die Geschichte des Ortes.

An diesem Tag führt Historiker Ulrich 13 Interessierte, die sich beim Projektbüro Stadtmuseum zum „Stadtspaziergang" angemeldet haben, umher. Bis zu den 70er Jahren war das KZ fast in Vergessenheit geraten. Erst als eine Gruppe luxemburgischer Touristen die Fremdenführerin bat, „doch mal dahin zu gehen, wo wir früher gefangen waren", setzten sich Rathaus und Stadtverordnete mit dem Thema auseinander.

Ulrich erinnert sich noch genau an den Moment, als die ehemaligen Gefangenen die Gedenkstätte zum ersten Mal betraten. „Die haben sich für nichts interessiert, was hier an Tafeln hing", sagt er. Sie seien direkt hineingestürmt, ohne nach rechts und links zu blicken - zielstrebig auf ein vergrößertes Schwarz-Weiß-Bild zu: das Porträt der etwa 100 Insassen. Das Porträt, auf dem sie selbst zu sehen waren. Ihre Freunde, ihre Kameraden.

„Und dann kullerten diesen alten Männern die Tränen von den Wangen", sagt Ulrich. Er habe sich entschuldigt, doch die Kriegsveteranen winkten ab. „Wiesbaden sei ihre Rettung gewesen, meinten sie. Hinzert war die Hölle." Strengere Wärter, harte Arbeit, wenig Essen. Was den Gefangenen vor allem zugute kam: Unter den Eichen war sehr stadtnah. Die Männer kamen in engen Kontakt mit den Wiesbadenern, wurden zum Teil in Handwerksbetriebe als billige Arbeitskräfte ausgeliehen.

Bekanntschaften entstanden, Freundschaften wuchsen. Daß kein Häftling im Lager an Hunger, Entkräftung oder Krankheit starb, ist vor allem einer Person zu verdanken: Elisabeth Ritter vom benachbarten Cafe Ritter. Sie versorgte die Männer heimlich mit Essen und Medikamenten. In Schwarz-Weiß blickt sie die Besucher der Gedenkstätte von einer Tafel im hintersten Raum aus an. „Das waren ganz normale Leute, die einfach nur taten, was sie für richtig hielten", sagt Ulrich. Einfach nur, was ihrer inneren Überzeugung entsprach.

Es habe alles gegeben im Zweiten Weltkrieg, auch in Wiesbaden. Menschen, die sich den Nazis verweigerten, wie Elisabeth Ritter. Und Menschen, die Häuser jüdischer Familien in Dienstbeflissenheit sprengten und unter Wasser setzten - so wie SS-Polizeiführer Jürgen Stroop. Auch ihm ist eine Tafel gewidmet. „Wir wollten es dialektisch aufbauen, die Gegensätze deutlich machen", erklärt Ulrich.

Sechs der Insassen fielen einem Luftangriff britischer Alliierter zum Opfer. Während die Nazis im Bunker Schutz fanden, wurde den Arbeitern der Zugang verwehrt. Der Zugang zu dem Bau, den sie selbst errichtet hatten.

„Nur sechs Tote, sagen viele, was ist das schon im Vergleich zu den Millionen", weiß Ulrich. Wortlos streckt er seinen Finger aus, weist auf eine der Tafeln. In schwarzen Lettern steht dort geschrieben: „Ein Unrecht wird dadurch nicht kleiner, daß andernorts ein größeres existiert."

Frankfurter Rundschau - 12.9.09 - mit freundlicher Erlaubnis der FR