Gemeindevorstand hält Nazi-Akten weiter unter Verschluß
Vor 60 Jahren wurden die letzten hessischen Juden deportiert / Parteimitglieder und Mitläufer teilten sich deren Eigentum auf

Von Matthias Holland-Letz

Vor fast genau 60 Jahren, am 6. September 1942, wurden die letzten hessischen Juden deportiert. Nutznießer waren vielerorts Geschäftsleute, die das jüdische Eigentum unter sich aufteilten. Ein Thema, das Verantwortliche in der Stadt auch heute noch gerne vertuschen wollen. Zum Beispiel im oberhessischen Neustadt.

NEUSTADT. Der Bescheid kam per Post. Neustadts Bürgermeister Manfred Hoim (CDU) erklärte mit Datum vom 23. Januar 2002 lapidar: Ältestenrat und Magistrat seien zu der Entscheidung gekommen, „eine Einsichtnahme...nicht zu gewähren". Die Akten der Stadt Neustadt im Kreis Marburg-Biedenkopf aus der Nazi-Zeit bleiben damit weiter unter Verschluß. Begründung: Keine.

Die Unterlagen, die das Staatsarchiv Marburg als „Bestand 330" aufbewahrt, sind offenbar brisant. Das Karteiblatt zur Akte Nr. 1107 trägt die Überschrift „Die nationalsozialistische Revolution in Neustadt 1933 bis 1941". Akte Nr. 698 enthält den „Bericht des Juden Karl Stern [der am 20. November 1938 in Buchenwald ermordet wurde/Webmaster] über Gewaltanwendungen ihm gegenüber in der Reichskristallnacht". Akte Nr. 578 handelt vom „Ankauf jüdischer Grundstücke" im Jahr 1939.

Andere Dokumente unterliegen nicht dem Zugriff der Stadt Neustadt. Diese Akten belegen, daß auch im nordhessischen Neustadt Nazis und Mitläufer spätestens 1938 bereit standen, um jüdische Geschäfte, Häuser und Grundstücke günstig zu übernehmen. So liegt im Marburger Staatsarchiv ein Brief, den der Neustädter NSDAP-Ortsgruppenleiter im November 1938 an die Nazi-Kreisleitung verfaßte.

Darin heißt es zum Geschäft des Juden Moses Blumenfeld: „Wenn der Laden arisiert werde, schlage ich für Manufaktur-Waren den Pg. (Parteigenosse, also NSDAP- Mitglied, d. Red.) Adolf Schi. vor. Für Schuhwaren den Pg. Schuhmachermeister Hch. F. und Albert Sch., für Koffer, etc. Pferdedecken den Sattlermeister Gustav B." Unterschrift: „Heil Hitler!"

Am 1. Februar 1939 mußte der 61-jährige Moses Blumenfeld seinen Laden in der Marktstraße 30 schließen. SA-Mann Willi B. eröffnete dort am 24. Mai 1939 ein Geschäft für „Zigarren, Zigaretten, Tabakwaren und Zubehörartikel", wie es in der Gewerbe-Anmeldung heißt.

Nach Recherchen der Marburger Historikerin Barbara Händler-Lachmann zog Moses Blumenfeld mit seiner Frau Sara drei Wochen später nach Frankfurt am Main. Von dort wurden beide ins Getto Lodz in Polen deportiert. Auf welche Weise Moses und Sara Blumenfeld ermordet wurden, ist nicht bekannt.

Wie Akten im Staatsarchiv Marburg für 1933 belegen, befanden sich 14 Neustädter Häuser in jüdischem Besitz. „Die halbe Marktstraße war jüdisch", erinnert sich ein alter Neustädter.

Auch eine Synagoge gab es, gleich an der Ortsausfahrt Richtung Marburg. In der Reichspogromnacht wurde das Gebäude teilweise zerstört.

Anschließend eiferten gleich mehrere Neustädter Nazis darum, das verkehrsgünstig gelegene Synagogen-Grundstück zu kaufen. Einer von ihnen war der Fahrzeughändler Friedrich H. Er plante, auf dem Grundstück „ein Fahrzeuggeschäft nebst Tankstelle und Reparaturwerkstätte sowie Wohnhaus" zu bauen, notierte NS-Bürgermeister Louis Wiederstein am 2. Januar 1939.

Den Zuschlag für den Bauplatz erhielt schließlich der Kolonialwarenhändler Karl St., ein „führender PG", wie es in einer Neustädter Akte vom 25. April 1949 heißt. Karl St. kaufte das Grundstück 1942 für 1083,20 Reichsmark. Anfang der 50er Jahre baute Heinrich B., der Schwiegersohn von Karl St., auf der Parzelle ein schlichtes, zweistöckiges Wohn- und Geschäftshaus.

Wer zu den Synagogen-Brandstiftern gehörte, haben die Behörden übrigens nie erfahren. „Täter: nicht bekannt", lautet die Formulierung in den Akten. Dokumentiert ist hingegen, welche Nazis 1945 von den Amerikanern „aus politischen Gründen" inhaftiert wurden. Die Liste umfaßt sieben Namen - diese war vom Bürgermeister am 21. August 1945 an den Marburger Landrat geschickt worden.

Wer die Geschichte der Neustädter Juden erforscht, macht sich nicht gerade beliebt in der 7000-Einwohner-Stadt. Das erfuhr der Lehrer Dankward Sieburg. Er begann mit seinen Recherchen in den späten sechziger Jahren - und wurde bedroht. „Es hieß, daß sie mich verprügeln werden, Fensterscheiben einwerfen, lauter solche Sachen", erinnert sich Sieburg. Der Lehrer nahm die Drohung ernst - und zog 1974 in einen Nachbarort.

Frankfurter Rundschau - 22.8.02 - mit freundlicher Erlaubnis der FR