Uni-Bibliothek sortiert Raubgut aus
Marburger Studenten machen die Eigentümer von Büchern aus, die in der NS-Zeit beschlagnahmt wurden

Seit vier Jahren fahndet die Marburger Universitäts-Bibliothek nach NS- Raubgut in ihren Beständen. 25 Studierende haben rechtmäßige Besitzer ausfindig gemacht, eine Ausstellung und ein Buch über die „Displaced Books" konzipiert. Damit übernimmt die Bibliothek eine Pionierrolle.

Von Gesa Coordes

Marburg - Die 74-jährige Irmgard Strohmeyer war sehr bewegt, als sich die Studierenden mit ihrem Fund bei ihr meldeten: „Es ist für mich eine große Ehre, dass meinem Vater nach all den Demütigungen diese Anerkennung zuteil wird." Die Tochter des kommunistischen Glasbläsers Arno Greiner aus Eppstein wird zur Ausstellungseröffnung am Samstag mit ihrer Familie anreisen. In der Präsentation werden zwei Bücher ihres Vaters gezeigt - Reiseliteratur verbotener Autoren. Irmgard Strohmeyer weiß auch noch, wann die Bücher gemeinsam mit 15 weiteren Bänden und einer Schreibmaschine beschlagnahmt wurden. 1936 sei ihr Vater abgeholt worden. Zum Glück blieb er nur kurze Zeit im Gefängnis und lebte bis zu seinem Tod 1973 in Leverkusen.

Bis nach Großbritannien führt die Spur von Erna Simion, deren Buch die Bibliothek 1943 in einem Berliner Antiquariat kaufte. Nach einer verwickelten Recherche stellte sich heraus, dass die jüdische Wirtschaftswissenschaftlerin 1919 in Marburg promoviert hat. Als sie 1939 vor den Nationalsozialisten floh, mußte ihre Familie eine mehr als 4.000 Bände umfassende, hervorragende Bibliothek zurücklassen. Das eine Buch über „Das Problem der Armut", das die Marburger nun wieder entdeckt haben, ist das erste, das die Familie zurückerhält. Großneffe John Segal will eigens nach Marburg reisen, um den Fund in Empfang zu nehmen.

Zwei Millionen Bände überprüft

Um das NS-Raubgut herauszufiltern, mußte die Universitätsbibliothek den Bestand von mehr als zwei Millionen Bänden systematisch durchforsten. Verdächtig waren rund 8.000 Bände, die von Landratsämtern, Polizeidienststellen, der Reichstauschstelle und aus Antiquariaten stammten. Davon blieben etwa drei Viertel „stumm", weil sie keinen Besitzvermerk trugen. Die große Masse der Bücher wird deshalb wohl nie den Weg zurück zu ihren rechtmäßigen Besitzern finden. Etwa 300 Bücher konnte Projektleiter Bernd Reifenberg mit größter Wahrscheinlichkeit als NS-Raubgut einstufen. Damit hat die Bibliothek vergleichsweise wenig beschlagnahmte Bände: „Die UB hat sich nie gezielt um arisierten Besitz bemüht, wie das andernorts oft geschah", erklärt Reifenberg.

Gemeinsam mit den Historikern Eckart Conze und Esther Krähwinkel startete er ein Forschungsseminar, in dem 25 Studierende den Irrwegen und den früheren Besitzern der Bücher nachgingen. „Die Bücher sind wie Sonden, die uns tief in den NS-Alltag haben blicken lassen", sagt Conze. Jenseits von Lehrbuchwissen sei faßbar geworden, wie Repression tatsächlich aussah, wenn etwa die Bibliothek eines SPD-Ortsvereins beschlagnahmt und seine Mitglieder abgeführt wurden. So stammen sieben belletristische Bücher aus der Arbeiter-Bibliothek des SPD-Ortsvereins Rodheim bei Wetzlar. Voraussichtlich werden sie in Zukunft im örtlichen Heimatmuseum ausgestellt werden.

Recherchiert wurde aber auch das Schicksal der Bücher des Fabrikarbeiter-Verbandes Hannover, der Arbeiterbücherei von Oberursel, des Kreiswahlvereins Usingen, des jüdischen Jugendvereins Schweinfurt sowie polnischer Adelbibliotheken. Nicht alle Fälle ließen sich aufklären.

So konnte noch nicht festgestellt werden, ob das wertvollste der entdeckten Bücher wirklich von Ernst Landsberg stammt, dem berühmten Rechtshistoriker und ersten jüdischen Rektor der Universität Bonn. Es handelt sich um einen Marburger Frühdruck von 1532, der auf Auktionen sicherlich 5000 Euro erzielen würde.

Viele der ehemaligen Besitzer haben der Uni-Bibliothek ihre Bücher nun ganz offiziell geschenkt. Irmgard Strohmeyer will der Hochschule sogar noch weitere politische Literatur ihres Vaters vermachen. „Trotzdem haben sich alle gefreut, dass sich jemand die Mühe gemacht hat, das Unrecht aufzugreifen", berichtet Projektleiter Reifenberg.

Die Ausstellung „Displaced Books" ist vom morgigen Samstag, 11. November 2006, bis zum 25. Februar von Montag bis Samstag von 9 bis 21.30 Uhr sowie sonntags von 13 bis 21.30 Uhr im Foyer der Marburger Universitäts-Bibliothek zu sehen.

Dazu ist ein 132 Seiten starkes Buch veröffentlicht worden (ISBN 3-8185-0435-0).

Frankfurter Rundschau – 10.11.06 - mit freundlicher Erlaubnis der FR

Wunderbar! Vorbildlich!
Kaum sind 60 Jahre seit dem Ende des Nazireiches vergangen (die Suche hat tatsächlich schon 1999 begonnen), sortiert die Uni- Bibliothek Marburg das Raubgut aus.

“Raubgut” - jahrzehntelang kein Thema? Für niemand?

Gelebte Realität in der BRD.

Webmaster