Von der Gestapo übersehen

Mainz: Bedeutende Bibliothek der früheren jüdischen Gemeinden befindet sich in der Universität

Unter Kohlesäcken versteckt überstanden 5500 Bücher den Holocaust und die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs. Der Bestand der jüdischen Mainzer Gemeindebibliotheken war von der Gestapo beschlagnahmt worden. Im Stadtarchiv wurden die Kisten dann offenbar vergessen, als die Nationalsozialisten den Direktor wegen mangelnder Linientreue absetzten: Dessen Nachfolger ahnte nichts von den jahrhundertealten Büchern im Keller. Heute befindet sich in Mainz eine der bedeutendsten jüdischen Bibliotheken in Deutschland.

Der Judaistik-Professor Andreas Lehnardt ist seit 2004 mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Bestände beschäftigt. Mit zwei Mitarbeitern arbeitet er an einem Katalog der Schätze, einige Bücher hat er aufwendig restaurieren lassen. „Hier liegen so viele Spuren", sagt der Wissenschaftler, „so viele Dissertationen sind hier noch möglich." Die Sammlung umfaßt die Bestände der während der NS-Zeit zwangsvereinigten liberalen und der orthodoxen jüdischen Gemeinde von Mainz: Werke in hebräischer, deutscher jiddischer, französischer und lateinischer Sprache. In den Regalen stehen Talmud-Folianten, philosophische Abhandlungen und mystische Kommentare.

Mindestens so faszinierend wie die Bücher seien auch die Notizen der Besitzer auf den alten Seiten, meint Lehnardt, der auch versucht, mehr über sie herauszufinden. „Sehr gebildete Juden haben diese Bücher benutzt", sagt er.

Aus vielen Bänden rissen die verzweifelten Besitzer vor 70 Jahren die Titelseiten heraus

In der Gemeindebibliothek fand Lehnardt aber auch einen mystischen Bibelkommentar, der vor über 300 Jahren dem für seine extrem antisemitischen Schriften berüchtigten Gelehrten Andreas Eisenmenger gehörte. Den Büchern hat die Einlagerung im Kohlekeller nicht sonderlich gut getan. Manche sind nicht mehr zu restaurieren, weil sie in der Reichspogromnacht 1938 in der brennenden Hauptsynagoge Feuer fingen. Aus vielen Bänden rissen die verzweifelten Besitzer vor 70 Jahren die Titelseiten heraus. Was damals die Bücher retten sollte, erschwert heute die Katalogisierung der Werke enorm.

Die Nationalsozialisten hatten es nämlich keineswegs darauf abgesehen, die bei Plünderungen erbeuteten wertvollen hebräischen Bücher komplett zu vernichten. Statt dessen bauten sie ein internationales Netz von Zwischenhändlern auf, um die geraubten Bestände gegen Devisen zu verkaufen. Ohne Titelblatt verloren die Bücher bei den Antiquaria-Händlern jedoch drastisch an Wert.

Als Zentrale der Bücherräuber habe während der Kriegsjahre das Frankfurter „Institut zur Erforschung der Judenfrage" fungiert, so Lehnardt. Kunstschätze aus ganz Europa wurden angeblich zu wissenschaftlichen Zwecken dorthin verfrachtet. Es sei fast unglaublich, daß „direkt vor der Nase der schlimmsten Bücherräuber" eine so große Sammlung unentdeckt geblieben sei. Seit 1955 befindet sich die jüdische Bibliothek ganz offiziell als Dauerleihgabe in der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Mainzer Universität. Bald könnte dieses Exil ein Ende haben. Nach der Fertigstellung des neuen jüdischen Gemeindezentrums soll die Sammlung dort untergebracht werden. Epd

Von der Gestapo übersehen

Alte Schätze für die Forschung -
Bücher aus jüdischen Mainzer Gemeindebibliotheken.

Frankfurter Rundschau – 5.7.08 - mit freundlicher Erlaubnis der FR