200 Jahre Herzogtum Nassau
BERT WORBS

Am 18 Juli 1866 zogen preußische Truppen kampflos in Wiesbaden ein. Damit war nach nur 60 Jahren das Ende des Herzogtums Nassau als eigenständiges Staatswesen gekommen. Nassau hatte im preußisch-österreichischen Krieg auf der Verliererseite gestanden und wurde nach der entscheidenden Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 zusammen mit dem Königreich Hannover, dem Kurfürstentum Hessen und der freien Reichsstadt Frankfurt am Main annektiert und in der Folgezeit in den preußischen Staat eingegliedert. Herzog Adolph, der das Land immerhin 27 Jahre regiert hatte, ging nach Luxemburg ins Exil.

Damit endete die kurze Geschichte eines Staates, der - ursprünglich eine Gründung von Napoleons Gnaden - durchaus in der Lage war, zumindest zeitweise, eigene und auch bleibende Akzente zu setzen. 2006 jährt sich die Begründung des Herzogtums zum 200. Mal, Anlaß genug, an die kurze aber nachhaltige Geschichte dieses Staatswesens zu erinnern.

Der Boden, auf dem das Herzogtum 1806 entstanden war, wurde bereitet durch die Umwälzungen der Franzosischen Revolution, die das überkommene Wertesystem und die mitteleuropäische Staatenwelt nachhaltig verändert hatten.

Französischen Truppen war es gelungen, die alliierten Kräfte in den Revolutionskriegen nicht nur zurückzudrängen, sondern tief in das Gebiet des alten Reiches einzudringen. Nach mehreren Verhandlungsrunden und Vertragswerken, deren bekannteste die Friedensschlüsse von Campo Formio und Luneville waren, wurden weitreichende Gebietsveränderungen in Mitteleuropa - und hier vor allem im alten Reich - wirksam.

Dieses mittlerweile 900-jährige alte Reich - schon vorher mehr eine überkommene Fassade als ein effizientes Staatswesen - zerfiel endgültig. Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 veränderte die Landkarte des Reiches in nie geahntem Maße. Die geistlichen Fürstentümer wurden säkularisiert, weltliche Territorien wurden für verloren gegangene linksrheinische Gebietsteile aus dem kirchlichen Besitz entschädigt.

Durch den Beitritt der Fürsten Friedrich August von Nassau-Usingen und Friedrich- Wilhelm von Nassau-Weilburg zum Rheinbund am 17. Juli 1806 wurde der Grundstein für das neue Herzogtum Nassau gelegt. An diesem Tag schlossen sich 16 deutsche Länder unter dem militärischen und politischen Druck Frankreichs zum Rheinbund zusammen. Kaiser Franz II. legte daraufhin die Reichskrone nieder, das Ende des alten Reiches war definitiv. Am 18. August desselben Jahres wurde Friedrich August von Nassau-Usingen zum Herzog des nunmehr vereinigten Gebietes der Fürstentümer erhoben. Insgesamt waren es letztendlich mehr als 20 vormals selbstständige bzw. vorher anderen geistlichen oder weltlichen Territorien unterstellte Gebietsteile, die im Herzogtum aufgingen. Hierzu gehörten, um einige Beispiele zu nennen, Teile der geistlichen Fürstentümer Mainz, Köln und Trier, die Besitzungen der Fürsten von Wied- Runkel, Wied-Neuwied und der Fürsten von Solms. Insgesamt umfaßte das Herzogtum zum damaligen Zeitpunkt ein Gebiet von 103 Quadratmeilen mit 270.000 Einwohnern. Zahlen, die sich bis zum Jahre 1816, als die Gebietsveränderungen weitgehend abgeschlossen waren, noch erhöhen sollten.

Der nicht einfache Weg des neuen Herzogtums war in den nun folgenden Jahren und Jahrzehnten m vielfältiger Hinsicht m das Gesamtgefüge der deutschen und europäischen Geschichte eingebunden. Revolution, Verfassungsgedanke, Restauration, Industrialisierung und kriegerische Auseinandersetzungen. All dies sind Stichworte, die auf das 19. Jahrhundert im Allgemeinen und natürlich auf die Entwicklung im Herzogtum Nassau im Besonderen Anwendung finden können. Hinzu kommen intern die Persönlichkeiten der Herzöge und ihrer Beamten, die Staat und Verwaltung prägten und der Zwang, die oftmals sehr unterschiedlich geprägten Landesteile in einer einheitlichen Verwaltung, einem einheitlichen Staat, unterzubringen. Wichtige Reformen der Anfangszeit waren die Aufhebung der Leibeigenschaft 1806, die Reise- und Niederlassungsfreiheit 1810 und eine Steuerreform im Jahre 1812. Daß diese Reformen im Rahmen und in der Umsetzung der Rheinbundakte erarbeitet wurden, war bis zum Zerfall der Machtstellung Napoleons und dem „Seitenwechsel" der Nassauer im Jahre 1813 selbstverständlich. Mit Karl von Ibell, Ernst Marschall von Bieberstein und - bei uns im Main-Taunus-Kreis besonders bekannt - Hans-Christoph von Gagern prägte eine Beamtengeneration die Politik des Herzogtums, die gegenüber den Gedanken der neuen Zeit durchaus aufgeschlossen war. Eine der nachhaltigsten Reformen war sicherlich die Schulreform von 1817. Mit der nassauischen Simultanschule führte das Herzogtum als erster deutscher Staat die Gemeinschaftsschule ein. Vorher waren die Kirchen wichtigste Träger von Bildung und Erziehung. Wichtig ist, dass mit dieser Reform nicht nur ein völlig neuer organisatorischer Rahmen geschaffen wurde, sondern auch umfangreiche Verordnungen für die inhaltliche Ausgestaltung von Schule und Unterricht getroffen wurden. Weitere Reformen der Nassauer Zeit betrafen die Kirchenorganisation und das Gesundheitswesen.

All dies vollzog sich vor dem Hintergrund einer Zeit, die man selbst aus heutiger Sicht als in vielfältiger Hinsicht revolutionär bezeichnen kann. In verschiedenen Bereichen kam es zu außerordentlichen Entwicklungsschüben: die Industrialisierung war in vollem Gange, das soziale Umfeld von vielen Menschen änderte sich dramatisch. Hier ist für das Herzogtum Nassau in erster Linie der hier schon seit Jahrhunderten prägende Bergbau und die damit verbundene Hüttenindustrie zu nennen. Die Mobilität der Gesellschaft wurde mit dem Eisenbahnbau ungleich größer, der Warenaustausch schneller und intensiver. Eine der ersten in Deutschland in Betrieb genommenen Eisenbahnstrecken führte zudem über nassauisches Gebiet: die Taunusbahnstrecke von Frankfurt nach Wiesbaden wurde 1840 eröffnet.

Mit der landständischen Verfassung vom 3. September 1814 wurde das Herzogtum Nassau gar zum Vorreiter damals moderner Gesetzgebung. Es wurde ein Zwei-Kammer- System, bestehend aus einer Landesdeputiertenversammlung und einer Herrenbank, eingerichtet. Auch der Reichsfreiherr Karl vom und zum Stein war in die Erarbeitung des Verfassungstextes als Berater mit eingebunden. Gerade in seiner Person manifestieren sich all die Brüche und Verwerfungen der damaligen Zeit eindrucksvoll. Stein als Reichsfreiherrn mußten grundsätzlich viele Entwicklungen im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geradezu zuwider sein; die Rheinbundstaaten betrachtete er mit Argwohn und mit Ablehnung. Dennoch stand er für moderne Verwaltung und ein effizientes Staatswesen.

Zurück zur Verfassung von 1814: wenn hier auch kein demokratisches Parlament im heutigen Sinne etabliert wurde, war es für die damalige Zeit außerordentlich fortschrittlich, und der politischen Macht wurde erstmals ein rechtlich fixierter Rahmen gesetzt. Bestandteile dieser Verfassung waren neben zahlreichen Elementen, die in die Zukunft weisen sollten, allerdings auch altständische Relikte. Die Souveränität verblieb in der Hand des Herzogs. Ein entscheidender Umstand, der deutlich wurde, als Herzog Wilhelm 1816 das Erbe Friedrich Augusts angetreten hatte. Wilhelm hielt eisern an der Idee des Gottesgnadentums fest und stand damit im Gegensatz zu den liberalen Strömungen im Land, gegen die er sich letztlich durchsetzen konnte.

Im Revolutionsjahr 1848 wurden auch im Herzogtum Nassau wieder Forderungen nach der Verwirklichung von bürgerlichen Rechten laut. Unter dem Druck von 30.000 Menschen, die sich vor dem Wiesbadener Stadtschloß versammelt hatten, stimmte der nunmehr regierende Herzog Adolph einem Neun-Punkte-Katalog zu, in dem die Forderungen des liberalen Bürgertums niedergeschrieben wurden.

Doch auch hier schlug das Pendel - zumindest teilweise - wieder zurück, und die herzogliche Regierung versuchte eine restaurative Politik durchzusetzen. Ein Konflikt, der sich bis zum Ende des Herzogtums nicht auflösen sollte. Einer der Streitpunkte über die Jahre war - an dieser Stelle nur nebenbei bemerkt - die besondere zollpolitische Bindung an Österreich; ein Aspekt, der im Hinblick auf die Rolle Nassaus im preußisch- österreichischen Krieg besondere Beachtung verdient. Interessant ist gerade vor diesem Hintergrund, dass der wirtschaftlich und politisch interessierte Teil der Bevölkerung in den letzten Jahren Nassauischer Selbstständigkeit zunehmend Kontakt zu Preußen suchte. Eine gewisse Spaltung der Gesellschaft in der Spitze war unübersehbar.

Einige wenige Worte zum internen Verwaltungsaufbau: an der Spitze stand der Herzog mit seinen Ministern und Beamten. Das Land selbst war in verschiedene Ämter unterteilt, die kleiner waren als unsere heutigen Landkreise, deren heutige Grenzen jedoch überschritten und deshalb nicht unbedingt von ihrem Zuschnitt her verglichen werden können. Die Städte und Gemeinden im heutigen Main-Taunus-Kreis waren damals auf die Ämter Idstein, Höchst, Königstein und Hochheim verteilt.

1866 schließlich endete, wie eingangs skizziert, die Geschichte des Staatswesens „Herzogtum Nassau" nicht ohne bis in die heutige Zeit reichende Spuren zurückzulassen. Daran erinnern nicht nur zahlreiche Institutionen, die den Namen „Nassau" in ihrem Titel führen. Auch Benennungen in der Landschaft („Nassauische Schweiz"), zahlreiche Gebäude aus Nassauer Zeit, Elemente der Kirchenorganisation und bis heute wirkende politische Akzente.

Literatur zur Einführung in das Thema

Herzogtum Nassau 1806 - 1866, Ausstellungskatalog, Wiesbaden 1981

Jahrbücher des Rheingau-Taunus-Kreises 2001 und 2002 (Schwerpunktthema Nassau)

MTK-Jahrbuch 2006 - mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber

1817: Simultanschule = Schule für alle. Unabhängig vom Bekenntnis. Sehr fortschrittlich.
Erst später gab es dann wieder Bekenntnisschulen, z. B. nach 1945 in NRW.