„Ich wußte, daß es furchtbar sein mußte"
Bad Soden: Dietmut Thilenius berichtet, wie sie als Siebenjährige den 9. November 1938 erlebte

Von Gesa Fritz

Ich stand allein vor einem großen schwarzen Zerstörungsfeld", erinnert sich Dietmut Thilenius an den Morgen nach dem 9. November 1938. Sie war sieben Jahre alt und befand sich vor der jüdischen Kuranstalt in Bad Soden. „Es qualmte noch und überall im Park lagen halb verbrannte Gegenstände herum."

In der vorangegangenen Pogromnacht durfte das Mädchen sein Elternhaus nicht verlassen. „Meine Mutter ging verzweifelt weinend im Wohnzimmer auf und ab und sprach kein Wort. Ich wußte nicht was passiert war - nur daß es furchtbar sein mußte", sagt Thilenius.

Eine Ahnung von den Ereignissen der Nacht bekam sie am 10. November in der Schule. Es herrschte Aufruhr, erinnert sich Thilenius. Die Kinder erzählten, daß Häuser zerstört, die israelitische Kuranstalt heruntergebrannt und die Kranken auf die Straße getrieben worden waren. „Die Kuranstalt hieß im Parteijargon ,Wanzenbude"', sagt sie.
Villa Aspira, jüdisches Erholungsheim,  dann Nazi-Quarier

In der Villa Aspira, zuerst als Erholungsheim für jüdische Deutsche gebaut, residierte die NSDAP

Thilenius wuchs in einem Arzthaushalt in Bad Soden auf. Ihre Eltern waren evangelisch, vor dem Haus hing die kleinstmögliche Hakenkreuzfahne der Straße. Über politische Fragen wurde mit der Tochter nicht gesprochen. „Das wagten meine Eltern nicht." Am 10. November ging das Mädchen nach der Schule zu den zerstörten Häusern. „Die Vorhänge hingen aus den eingeschlagenen Fenstern, die Lampen waren heruntergerissen und in den Vorgärten lagen zerstörte Möbel", sagt sie. Die Täter hatten mit Spitzhacke, Beil und Vorschlaghammer in den jüdischen Haushalten gewütet. „Das waren alles Bürger aus Bad Soden", sagt Thilenius, die heute Vorstandsmitglied in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit ist und sich ausführlich mit der NS-Geschichte der Kurstadt beschäftigt hat.

Die 50 bis 60 Patienten der Lungenheilanstalt, so ist in Sodener Schriften zu lesen, wurden aus den Betten gezerrt, in Bademänteln und Schlafanzügen in den Park getrieben und dann ins Konzentrationslager geschafft.

Die Täter wüteten mit Spitzhacke, Beil und Vorschlaghammer

Als Dietmut Thilenius zehn Jahre alt war, ging sie zur Hitlerjugend. Was aus ihr geworden wäre, wenn die Nazis an der Macht geblieben wären, weiß sie nicht. „Wenn ich mich nicht mit den dunklen Seiten des Menschen beschäftige - auch mit meinen eigenen - bin ich verführbar", sagt sie. Wie tief die NS-Propaganda sie geprägt hat, wurde ihr deutlich, als sie vor 15 Jahren zum ersten Mal Polen begegnete. „Ich war erstaunt, daß das Menschen sind." [?? - Webmaster]

Frankfurter Rundschau - 8.11.08 - mit freundlicher Erlaubnis der FR