Antisemitismus in Flörsheim im 18. Jahrhundert
WERNER SCHIELE

Judenfeindschaft und Antisemitismus haben in Deutschland eine lange Tradition. Der offiziell gepredigte Antijudaismus war über Jahrhunderte fest in der christlichen Lehre verankert, deren Geltungsbereich und Akzeptanz unangefochten und allumfassend war. Wie sich Judenfeindschaft in einem kleinen Dorf im Zusammenleben zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit im 18. Jahrhundert dargestellt und ausgewirkt hat, soll nachfolgend am Beispiel Flörsheims geschildert werden. Die emotionale Abneigung gegen Juden lässt sich für diesen Ort aus einer Reihe von Vorfällen erschließen.

Als 1709 die Juden im Ort um ihre wirtschaftliche Existenz als Viehhändler kämpften und den Zugang zu den Weideplätzen verteidigten, versuchte die Zivilgemeinde dieses Anliegen mit dem Hinweis auf die „fürwitzigen Manier" der Juden zu diskreditieren. Juda Mayer, Kramdiener bei Michel, ließ 1729 in einer Anzeige einfließen, dass es bekannt sei, „wie die Juden in Flörschheimb beständig verfolget werden". Einzelheiten nannte er in diesem Zusammenhang nicht. Der von ihm zur Anzeige gebrachte Vorfall gab jedoch bereits einen Einblick in die damalige Situation. Zwei Flörsheimer Bürger hatten Juda Mayer und einem weiteren Juden aufgelauert, als diese am Sonntag gegen 21 Uhr außerhalb des Ortes im Main badeten. Mit einem Hagel von Steinen attackierten sie die Juden, die sich nackt in den Ort flüchten mussten. Die christlichen Untertanen entwendeten sodann die zurückgelassenen Kleider. Der Schultheiß zeigte keine großen Anstrengungen, der Anzeige nachzugehen. Erst nach Einschaltung des Domdechanten nahm er die Ermittlungen auf. Wahrscheinlich 1730 rottete sich eine Menschenmenge vor dem Anwesen des Michel zusammen und bewarf das Haus mit Steinen. Der Flörsheimer Pfarrer und der Unterschultheiß kamen den Juden zu Hilfe, auch als einige Zeit später am gleichen Tag die Menge in das Haus einzudringen versuchte. Die Auseinandersetzung stand möglicherweise in Zusammenhang mit einem Rechtsstreit des Michel gegen die Flörsheimer Schröterzunft. Bei der Einlagerung von Wein im Keller des Michel hatte der Obermeister der Schröter, Philip Wolf, ein Fass beschädigt. Michel, der einen Schaden von 100 Gulden behauptete, verglich sich in einer Verhandlung auf eine Summe von 20 Reichstalern. Aber auch dieser Betrag war offensichtlich dem Schuldner zu hoch. Philip Wolf drohte Michel mehrfach mit Tätlichkeiten. Der Jude bat daraufhin den Domdechanten um Hilfe.

Als am 28. März 1742 Mortge Moises auf dem Weg nach Frankfurt die Zollstation in Hattersheim passieren wollte, wurde er festgenommen und in das „Gehorsam" genannte Gefängnis gebracht. Mortgen hatte sich unter Bezugnahme auf die pauschale Abgeltung des Leibzolles für Flörsheimer Juden geweigert, an der Zollstelle diese Abgabe zu entrichten. Auf Beschwerde des Schutzjuden untersuchte der Amtskeller den Vorfall. Sämtliche Beteiligte stritten in der Verhandlung vom 3. April 1742 ihre Verantwortlichkeit ab. Schließlich kristallisierte sich heraus, dass der Zöllner die „Einthurmung" gar nicht veranlasst hatte, sondern der für die Zollerhebung gar nicht zuständige Schultheiß von Hattersheim. Dieser hatte in der verbalen Auseinandersetzung den Juden zum Schweigen aufgefordert, worauf Mortgen antwortete, er schweige nicht still, denn wenn es sein Geld koste, dürfe er auch reden. Daraufhin inhaftierte ihn der Schultheiß mit der Bemerkung, im Turm könne er verfaulen. Dieser Wortwechsel wurde später vom Schultheißen in Abrede gestellt, dürfte jedoch authentisch sein. Denn außer dem Ärger des Schultheißen, der das selbstbewusste Auftreten eines verachteten Juden nicht akzeptieren wollte, gab es im vorliegenden Fall kein Motiv für eine Inhaftierung. Als sich Mortgen nach seiner Freilassung bei der Hofkammer in Mainz beschwerte, wies diese nach Untersuchungen durch den Amtskeller das Gesuch zurück. Ihr unterstand nur der Zöllner, nicht hingegen der die Inhaftierung befehlende Schultheiß. Generell ist festzustellen, dass die Vertreter der christlichen Obrigkeit bei der Festnahme von Juden keine hohen Hemmschwellen zu überschreiten hatten. Dies musste auch Mortgens Vater Moises Juniori 1726 erfahren, als der Darmstädter Oberforstmeister ihn „in Eisen und Band" legen ließ. Die Kontrahenten stritten über die Abwicklungen eines Viehhandels und um einen Wechsel über 500 Gulden. Weitere Informationen sind in den Quellen nicht vorhanden.

Auch in der Folgezeit lassen sich aus den Akten verschiedener Behörden massive Aversionen der jeweiligen Beamten gegen die jüdischen Einwohner entnehmen. In den Flörsheimer Gerichtsbüchern wurden unter anderem auch Zwangsversteigerungen von Grundstücken protokolliert. Auf wessen Veranlassung die Zwangsvollstreckung eingeleitet worden war, blieb in der Regel unerwähnt. Anders 1755, als Jaugene beim Ortsgericht die Versteigerung des Anwesens des Heinrich Stefan Britz betrieb. In ungewöhnlich breiter Darstellung und in einer im Gerichtsbuch nicht gekannten Ausführlichkeit wurde die Vorgeschichte und die Ursache der Zwangsversteigerung geschildert. Voll von antijüdischen Untertönen sind auch die Berichte des Amtsverwesers für Flörsheim im Jahr 1761. Als Falck Weller nach dem Tod seines Vaters um Aufnahme als Schutzjude bat, teilte der Amtsverweser mit versteckter Bosheit mit, Falck habe „für einen Juden einen guten Namen". Das Gegenteil wurde offensichtlich als allgemeiner Kenntnisstand vorausgesetzt. Anders beurteilte der Amtsverweser den Bruder Seligmann Weller. Dieser sei „ebenso wenig als andere von seiner Jüdischen aigenschaft frey". Hier wurde deutlich, dass der Amtsverweser das negative Moment einer „jüdischen Eigenschaft" als bekannt unterstellte. Der gleiche Beamte äußerte sich 1765 über den Antrag des Mordgen Moyses, dessen Sohn Juda in den Schutz des Domkapitels aufzunehmen. „Meines erachtens seind die Länder und orthschaften glücklich, wo sich gar keine Juden befinden, dann was sie der gnädigen Herrschaft an Schutzgelt einbringen, darumb betrügen sie derselben christliche Unterthanen zehenfach, und saugen sie successive durch ihren wucherische Händel dergestalten aus, daß sie gäntzlich ins Unvermögen und folgsamen ausser stand gerathen, ihre schuldige praestanda zu praestieren, mithin die gnädige Herrschaft ahn denen zugrund gerichteten christlichen unterthanen ein weith mehreres verliert als ein solcher Jud derselben eintraget". In diesen wenigen Sätzen sind die gängigen Vorurteile gegen Juden konzentriert: der Vorwurf des Betruges und des Wuchers. Des Weiteren ist deutlich, dass der Amtsverweser Juden einzig als Objekt finanzieller Abschöpfung betrachtete, hingegen ihnen als Menschen keinerlei Achtung entgegenbrachte. Das Domkapitel war offensichtlich von der Stellungnahme beeindruckt und lehnte die Aufnahme von Juda Mordgen ab. 1768 musste sich der Amtsverweser erneut über ein Aufnahmegesuch äußern, diesmal von Samuel Gerson für seinen Sohn Joseph. Zwischenzeitlich war von der als Obergrenze festgesetzten Zahl von 14 Schutzjuden ein Platz frei geworden. Der Amtsverweser vertrat die Auffassung, es hielten sich immer noch zu viele Juden in Flörsheim auf und dass aus diesem Grunde „ einer nach dem anderen verderbe " und das Schutzgeld nicht zahlen könnte oder „sich auf allerhand betrügereien befleißigen müßte ". Das Domkapitel reduzierte daraufhin die Zahl der für Flörsheim auszugebenden Schutzbriefe, wenn auch nur kurzfristig, auf 13. Nur ein Jahr später hielt der Amtsverweser in seiner dienstlichen Stellungnahme die Juden für „mehr schädlich als nützlich" und teilte mit, er könne „deswegen zu Unterhaltung dieses Geschlechtes nicht anrathen ".

Der schlimmste antisemitische Affront ist im Flörsheimer Gerichtsbuch 1718 bis 1803 nachzulesen. In diesem Buch, das vor allem Grundstückskaufverträge und Zwangsversteigerungen beinhaltet, ist für den 25. September 1792 die Versteigerung des Anwesens des verstorbenen Hirsch Jecuf protokolliert. Der Beginn der Eintragung lautet: „Nachdem dahiesiger Schutzverwandte Hirsch Jecuf onlängst die Schuld der Natur bezahlet...". Für den Tod eines Menschen waren damals verschiedene Formeln und Ausdrücke üblich: „Nachdem N.N. verstorben", „des Todes verblichen", „des Todes verfahren", „das zeitliche mit dem Ewigen verwechselet", „mit Tod abgegangen", „des Todes verfallen". In keinem Fall war jedoch von der „Schuld der Natur" die Rede. Hier kam der Vorwurf der Verworfenheit, der Verruchtheit und der Minderwertigkeit deutlich zum Ausdruck. Die althergebrachte Auffassung, der Jude sei als personifizierter
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Christusmörder das lebende Beispiel für die Wahrheit des Christentums, war das bis in das Zeitalter der Aufklärung mitgeschleppte Dogma der frühchristlichen Kirchenväter. Thomas von Aquin hatte dieses Motiv 1274 aufgegriffen, als er schrieb, die Juden seien auf Grund ihrer Schuld, Jesus abgelehnt und gekreuzigt zu haben, zu ewiger Knechtschaft bestimmt. Dem Flörsheimer Gerichtsschreiber waren diese Thesen 1798 gegenwärtig und wichtig. Die religiöse Auseinandersetzung am Tod Hirsch Jecufs aufleben zu lassen, hatte allerdings noch einen anderen Grund. Zwei seiner Kinder waren 1775 und 1779 zum Christentum übergetreten und hatten damit für den Gerichtsschreiber die Überlegenheit der christlichen Religion bewiesen.

Als Salomon Hirsch im Jahr 1800 kurzfristig Flörsheim verließ und 1801 sein Anwesen im 1. Viertel versteigert wurde, sah sich der Gerichtsschreiber bemüßigt, im Gerichtsbuch ausführlich anzumerken, dass der Jude der Schulden halber geflüchtet sei und die Gläubiger deshalb „vieler Gefahren und vielleicht gar des gänzlichen Verlustes ausgesetzt" seien. In Wirklichkeit kam Salomon Hirsch bereits 1802 nach Flörsheim zurück und lebte hier bis zu seinem Tod. Die Zwangsvollstreckung gegen christliche Schuldner erfolgte ohne derartige Kommentare, zumindestens was die Eintragungsvermerke in den Gerichtsbüchern anbetraf. Im vorliegenden Fall ersteigerte der Gerichtsschultheiß Neumann das Anwesen für 170 Gulden und verkaufte es nur vier Monate später an Juda Mordgen für 215 Gulden. Eine besondere Hervorhebung der Geschäftstüchtigkeit des Schultheißen ist durch den Gerichtsschreiber nicht erfolgt.

Vertraten bereits die Beamten des Domkapitels eine dezidiert antijüdische Haltung, konnte es nicht verwundern, wenn auch die Bevölkerung im täglich gelebten Antijudaismus eine Legitimation für ihr eigenes Handeln fand. Die Aversionen wurden im beginnenden 18. Jahrhundert nicht nur in Übergriffen und Tätlichkeiten offenbar, sondern in einem subtileren Maße im Prozessverhalten der christlichen Einwohner. In den Jahren 1700 bis 1750 waren am Ortsgericht, beim Amtmann und dem Domkapitel eine Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten anhängig. Räumten anfangs die Schuldner ihre Verbindlichkeiten gegenüber jüdischen Gläubigern noch unumwunden ein  und erklärten, einzig aus wirtschaftlicher Not nicht zahlen zu können, so veränderte sich in den Folgejahren das Prozessverhalten. Nunmehr leugneten die Beklagten häufiger ihre Zahlungsverpflichtungen. Michel Leuchner z. B. hatte sich bereits 1726 zur Zahlung einer Schuld von 104 Gulden an Michel verpflichtet und ein schriftliches Schuldanerkenntnis abgegeben. 1734 erfolgte eine Abrechnung zwischen Michel Leuschners Ehefrau einerseits sowie Michel und dessen Bruder Moyses andererseits. Erneut unterwarf sich die Leuschnerin in einer Urkunde ihrer Zahlungspflicht. Vier Jahre später behauptete sie, sie habe sich 1734 bei der Abfassung der Obligation geirrt, die beiden Juden hätten bedeutend weniger Forderungen. Sie bot die Zahlung einer geringen Summe an und forderte Moyses auf, einen Eid zu schwören, wollte er auf seinem Anspruch bestehen. Gleichzeitig warf sie ihm vor, in der Vergangenheit einen Meineid geschworen zu haben. Der Eid war in der damaligen Zeit das wichtigste Mittel eines gerichtlichen Beweises. Unter Anrufung Gottes wurde die Richtigkeit der behaupteten Tatsache versichert. Der Meineid war nicht nur ein Verstoß gegen bestehende Strafgesetze, sondern eine Verletzung des göttlichen Ordnungssystems und damit Gotteslästerung. Dem Vorwurf des Meineides trat Moyses deshalb energisch entgegen, verlangte genauere Aufklärung und Genugtuung. Die Leuschnerin konnte keine Zeugen nennen und behauptete, sie habe ihre Kenntnisse von einer zwischenzeitlich verstorbenen Person. Gleichzeitig bot sie Moyses an, auf die Abnahme des Eides verzichten zu wollen, falls er ihr einen Teil der Schuld erlassen werde. Hier wird deutlich, dass das Vorgehen der Leuschnerin einzig darauf abzielte, den Juden zum Verzicht oder teilweisen Verzicht seiner Ansprüche zu zwingen und sie dabei auch das Mittel der üblen Nachrede und Verleumdung in ihre Strategie einbezog. Der Gerichtsschreiber ließ in der Protokollierung seinen Unmut über das prozessuale Taktieren spüren und vermerkte: „und nachdem hierüber wieder viele ohnnöthige worth gewechselt worden". Ob Moyses seine Forderung schließlich erfolgreich eintreiben konnte, ist nicht ersichtlich. Der Schultheiß wurde in der Folgezeit mehrfach vom Amtmann angewiesen, die Zwangsvollstreckung zu betreiben. Seine Geringschätzung gegenüber Juden brachte auch Nicolaus Mohr 1798 deutlich zum Ausdruck, als er in einem Prozess die Protokollierung des Gerichtes wünschte, mit der Argumentation, er hebe Quittungen oder Handschriften von Juden nicht auf, weil er mit diesen nichts „zu schaffen haben wollte ".

Ein überaus bezeichnender Fall von Judenhass in der Bevölkerung ereignete sich 1802. Der Schmiedemeister Carl Heil hatte sein Anwesen im l. Viertel an Süsel David verkauft und sich mit seiner Ehefrau ein lebenslängliches Wohnrecht im oberen Stockwerk vorbehalten. Acht Tage nach Protokollierung des Vertrages erschien die Ehefrau des Carl Heil beim Schultheißen und erklärte, ihr Mann habe den Kaufvertrag ohne ihre Zustimmung abgeschlossen. Sie könne dies „ umso weniger zulassen (...), weilen ein Jud unten bey ihnen wohnen und zur Zeit der Krankheit der Geistliche mit dem Hochwürdigsten Gut in ein Juden Hauß gehen sollte (...); bathe den Kauf zu annulieren".

Diese Beispiele zeigen, dass das Zusammenleben von Christen und Juden unter einem Dach keine Selbstverständlichkeit, der Aufenthalt der Juden im Ort nur geduldet, aber nicht vorbehaltlos akzeptiert war.

Quellen:
Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Akten der Abteilungen 105 und 106; Bayerisches Staatsarchiv Würzburg, Mainzer Domkapitelprotokolle Bände 50, 61 und 62; Stadtarchiv Flörsheim, Gerichtsbücher 1718 -1803 und 1797 -1804.

Eine ausführliche Darstellung gibt der Verfasser in seinem Buch Juden in Flörsheim am Main, Die Geschichte einer Minderheit auf dem Lande, Flörsheim am Main, 1999.

Der alltägliche Antisemitismus: Ein Jude stirbt nicht sondern bezahlt im Tod die Schuld der Natur (l792)

Stadtarchiv Flörsheim, Gerichtsbuch 1718-1803, Seite 690

Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 2001 – mit freundlicher Erlaubnis des Autors

22.10.05

Antisemitismus in Deutschland ist keine “typisch deutsche” Naturgewalt - aber die christliche Religion ist Ursache und ewige Grundlage für den dauerhaften Antisemitismus in unserem Land (wahrlich nicht nur hier), hier dargestellt am Beispiel der damaligen Gemeinde Flörsheim.
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