Bitten aus vollen Kinderherzen
Das Stadtarchiv Hattersheim ist um 1812 Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg reicher

Von Barbara Helfrich

Die verblichene Postkarte zeigt eine Kirchenruine, auf der Rückseite stehen zwei knappe, verwischte Bleistiftzeilen, nur die Worte „völlige Zerstörung" sind auf Anhieb lesbar. Zwei betende Kinder und ein Soldat mit Gewehr sind auf einer farbig gedruckten Weihnachtkarte zu sehen. „Wir bitten Gott aus vollen Kinderherzen, lindere des Weltkriegs Schmerzen", heißt der Spruch, der dazu vor 95 Jahren gereimt wurde. Das sind nur zwei von 1812 Feldpostkarten aus dem Ersten Weltkrieg, die Inge Riemer gesammelt und sorgfältig archiviert hat. Ihre Tochter Claudia hat sie gestern dem Hattersheimer Geschichtsverein als Dauerleihgabe übergeben.

Mehr als 15 Jahren habe ihre Mutter die Postkarten zusammengetragen, unter anderem im Internet ersteigert oder bei Antiquitätenhändlern erstanden, erzählt Claudia Riemer. Sie waren als Grundlage für ein Buchprojekt gedacht. Nach ihrer Pensionierung wollte die Verwaltungsangestellte Inge Riemer damit anfangen und die Kriegsgeschichte aus dem Blickwinkel der Soldaten beleuchten. Die Karten geben „einen kleinen, psychologischen Einblick in die ganz persönlichen Hoffnungen, Wünsche, Nöte, Erwartungen, Bewertungen von Männern im Krieg", hat Inge Riemer in einem vorbereitenden Text formuliert. Sehr viel weiter kam sie nicht mehr. Nach nur vier Monaten im Ruhestand starb Inge Riemer im Februar 2009 nach sehr kurzer, schwerer Krankheit im Alter von 60 Jahren.

„Ich wußte nicht, was ich mit der Sammlung machen sollte", sagt Claudia Riemer: „Sie hätte nur im Keller gestanden." Die Geschichte sei nicht ihr Hobby, lieber treibe sie Sport. Verkaufen, auseinanderreißen und „in alle Winde verstreuen" wollte sie das Postkartenarchiv ihrer Mutter aber nicht. Jetzt soll sie in das Museum kommen, das der Geschichtsverein spätestens 2013 im ehemaligen Werkstattgebäude auf dem Sarotti-Gelände eröffnen will. „Das wäre sicher im Sinne meiner Mutter gewesen", so Claudia Riemer.

Auch Enkelin bei der Übergabe

Zur Übergabe ihrer Sammlung kam sie mit ihrer 83-jährigen Großmutter Juliane Trutz, die bereits begonnen hatte, ihrer Tochter Inge zu helfen, die Texte auf den Postkarten zu entziffern und zu transkribieren. „Ich kann noch Sütterlin, sie konnte es schon nicht mehr", sagt Juliane Trutz, die nach dem Zweiten Weltkrieg Arbeit bei Sarotti fand - woraufhin die Familie nach Eddersheim zog. Schon als Kind habe sich ihre Tochter sehr für Geschichte interessiert, sagt sie. „Die fünf Brüder ihrer Oma waren im Ersten Weltkrieg, danach hat sie öfters gefragt".

Bis das Museum eröffnet wird, kommt die Sammlung ins Stadtarchiv. In der Dauerausstellung im Museum werde wohl höchstens Platz für einige der Feldpostkarten sein, sagt Rathaussprecherin Ulrike Milas-Quirin. Doch denkbar sei, eine der regelmäßigen Sonderausstellung im Nassauer Hof damit zu bestücken.

„Wir wissen relativ viel über den Zweiten Weltkrieg, aber der Erste ist schon sehr weit weg", sagt Stadtarchivar Wilfried Schwarz. Durch die Feldpostkarten „bekommt der Erste Weltkrieg wieder ein Gesicht". Auch die achtjährige Emily, Enkelin der verstorbenen Sammlerin, blättert interessiert durch die Postkartensammlung und will dann wissen: „Hatte Oma Inge eigentlich auch welche doppelt ?"

Frankfurter Rundschau - 19.11.10 - mit freundlicher Erlaubnis der FR