Ein alter Schatz in neuem Glanz
Zur Restaurierung des Kelkheimer Gerichtsbuchs

BEATE MATUSCHEK

Bis Mitte der 1960er Jahre schlummerte ein fünfhundert Jahre altes Gerichtsbuch mit einer dazugehörenden kolorierten Federzeichnung im Archiv der Stadt Kelkheim.

Welch einzigartiges Kulturerbe die Zeichnung und das Gerichtsbuch für Kelkheim darstellen, hob Stadtarchivar Dietrich Kleipa in mehreren vielbesuchten historischen Ausstellungen hervor. In den Präsentationen „30 Jahre Stadt Kelkheim" (1968), „1100 Jahre Kelkheim" (1974), „Zeugen der Kelkheimer Vergangenheit" (1977) und „1200 Jahre Kelkheimer Stadtteile" (1980) fand das Gerichtsbuch eine große Aufmerksamkeit. 1968 veröffentlichte Dietrich Kleipa in seiner Schrift „Kelkheim/Taunus. Ein Streifzug durch die Geschichte der Stadt", erstmals einen Beitrag zum Kelkheimer Gerichtsbuch.

Im Jahr 2000 wurden Gerichtsbuch und Zeichnung in der Ausstellung „Karlsverehrung in Frankfurt" gezeigt. Damals fanden die von der Zeit gezeichneten Fragmente aufgrund ihrer historischen Bedeutung für das Frankfurter Bartholomäusstift besondere Beachtung. Sieben Jahre später wurde der Versicherungswert der Zeichnung auf mehr als 500.000 € geschätzt. Maßstab war der Versicherungswert eines vergleichbaren Blattes aus dem Landesarchiv in Koblenz 1.

Das Gerichtsbuch ist heute das bekannteste Objekt des Kelkheimer Stadtarchivs. Um die kostbaren Blätter auf Dauer zu erhalten, gab die Stadt Kelkheim 2008 eine umfassende Restaurierung in Auftrag.

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Gerichtsbuch vor der Restaurierung (Stadtarchiv Kelkheim)

Historische Hintergründe

Das Kelkheimer Gerichtsbuch wurde Anfang des 16. Jahrhunderts angelegt. Es handelt sich um ein Protokollbuch des Hubengerichts, das Kauf- und Erbschaftsangelegenheiten der Dörfer Kelkheim und Hornau aufzeichnete. Beide Orte gelangten in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts durch Schenkungen an die Königliche Kapelle in Frankfurt und zählten somit zu den ältesten Besitztümern des Stifts. Das Frankfurter Stift übertrug die hohe Gerichtsbarkeit über Kelkheim und Hornau an die Herren von Eppstein, die diese seit 1276/77 als Vögte zu Lehen hatten.

Das Gerichtsbuch ist nur noch fragmentarisch erhalten geblieben: es besteht heute aus einer separaten Federzeichnung sowie sieben doppelseitig beschriebenen Blättern, die in einem schweinsledernen Bucheinband gebunden waren. Die Aufzeichnungen beginnen im Jahr 1514 und enden im Jahr 1590.

Aufgrund der Korrosionsspuren, die die Schließe des Buches hinterließ, ist anzunehmen, daß die heute gerahmte Zeichnung ursprünglich den Protokollblättern vorangestellt war: Sie leitete vermutlich als Rückseite von Blatt 1 den nachfolgenden Text ein oder war direkt auf die Innenseite des Buchdeckels geklebt worden.

Das kolorierte Blatt zeigt den heiligen Bartholomäus und Karl den Großen als Patrone des Frankfurter Bartholomäusstifts und verweist somit auf das Stift als Besitzer der Ländereien in Kelkheim und Hornau sowie die Verpflichtung gegenüber diesen beiden Heiligen.

Zustand des Gerichtsbuchs vor der Restaurierung

Der verzierte Ledereinband war durch Feuchtigkeit wellig geworden und geschrumpft. Er hat sich von den Holzdeckeln gelöst und verzogen. Das Schließsystem des Buches ist bis auf ein Fragment im Rückdeckel verloren gegangen. Es hat Fehlstellen und Rostflecken im Einband hinterlassen. Die Holzdeckel wiesen Insektenfraß und durch die Schließen verursachte Korrosionsspuren auf.

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Kolorierte Federzeichnung:
Hl. Bartholomäus und Karl der Große - Vor der Restaurierung (Stadtarchiv Kelkheim)

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Kolorierte Federzeichnung nach der Restaurierung (Stadtarchiv Kelkheim)

Erhalten blieben sieben Seiten und kleine Fragmente. Die handgeschriebenen Blätter zeigten starke Verschmutzungen und beginnenden Tintenfraß. Die übrigen Seiten des Buches waren herausgerissen worden und sind nun verschollen. Bei der Federzeichnung wie auch bei den Textblättern fehlten große Stücke der linken oberen und unteren Ecke.

Die kolorierte Zeichnung wurde bereits in den 1960er Jahren restauriert und auf ein gleichfarbiges Papier kaschiert. Genaueres ist nicht bekannt, da eine Dokumentation dieser Restaurierung fehlt.

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Innenseite nach der Restaurierung. (Stadtarchiv Kelkheim)

Restaurierungsmaßnahmen

Den Auftrag zur Restaurierung und Konservierung des Gerichtsbuchs und seiner Federzeichnung erhielten die renommierte Grafikrestauratorin Martina Noehles in Mülheim am Main und die Papierrestauratorin Vendulka Cejchan in Berlin. Ihre Dokumentation ist im Kulturreferat der Stadt Kelkheim einsehbar. Darüber hinaus ist ein Faksimile des Gerichtsbuchs für die neue Stadtbibliothek erstellt worden.

Vendulka Cejchan übernahm die Restaurierung des Buches. Sie reinigte den stark verschmutzten Ganzledereinband und weitete diesen so, daß er seine ursprüngliche Paßform wiedererhielt. Fehlstellen wurden mit neuem Leder überklebt, Roststellen und Fraßlöcher von Insekten an den Holzdeckeln des Buches gesäubert.

Die Fehlstellen der sieben handgeschriebenen Protokollblätter ergänzte die Restauratorin mit farblich angepaßtem Japanpapier. Die einzelnen handgeschriebenen Seiten wurden feucht gereinigt und mit einer feinen Kleisterlösung konserviert. Um zu vermeiden, daß der lederne Buchrücken bricht, ergänzte sie die herausgerissenen Seiten durch eine Vielzahl von Lagen aus Büttenpapier. Ein Faksimile der kolorierten Zeichnung schmückt, wie vermutlich ursprünglich auch, den Spiegel des Vorderdeckels.

Die kostbare Originalzeichnung mit der Darstellung des heiligen Bartholomäus und Karls des Großen wurde im Atelier von Martina Noehles restauriert. Die Federzeichnung wies zahlreiche Fehlstellen auf und war durch Schwankungen der Luftfeuchtigkeit in den Eckbereichen wellig geworden. Martina Noehles nahm hier eine trockene Reinigung vor, legte die verwellten Bereiche plan und retuschierte behutsam kleinere Fehlstellen mit Aquarellfarben.

Um die Qualität der Zeichnung langfristig zu bewahren, wurde eine konservierende Rahmung mit Schutz vor UV Licht und Klimaschwankungen vorgenommen.

Einordnung der kolorierten Federzeichnung

Mit Fertigstellung der Restaurierungsmaßnahmen ergab sich die Frage nach einer wissenschaftlichen Einordnung der Kelkheimer Zeichnung. Auf Empfehlung des Frankfurter Dommuseums nahm Doktorandin Michaela Schedl M.A. eine kunsthistorische Untersuchung vor, deren Ergebnis im Stadtarchiv nachzulesen ist. Eine Zusammenfassung ihrer umfangreichen Analyse soll nachfolgend vorgestellt werden.

Michaela Schedl wendet sich zunächst einer näheren Betrachtung der Zeichnung zu. Diese zeigt den heiligen Bartholomäus und Karl den Großen gegenüberstehend in Dreiviertelansicht. Der Apostel Bartholomäus trägt über einem bodenlangen Gewand ein weißes Pluviale (liturgisches Gewand). Mit der erhobenen Linken umfaßt der Märtyrer eines seiner Attribute, das Schindmesser. In seiner Rechten hält er ein Buch mit rotem Einband. Seine mit dem Schindmesser abgezogene Haut trägt der Apostel über dem rechten Unterarm. Bekümmert schaut Bartholomäus zu Karl dem Großen hinüber. Kaiser Karl der Große hält mit der Linken den rechten Mantelrand, der in einem Bogen seine geöffnete Rechte sowie seinen Schwertknauf umfängt. Auf dem linken Unterarm trägt er das Modell der Frankfurter Kirche, das ihn als Stifter des Baus ausweist. Tatsächlich hat sein Enkel - Ludwig der Deutsche - im Jahr 852 das Stift gegründet. Über seiner roten Kopfbedeckung sitzt die kaiserliche Bügelkrone. Beide sind als Heilige mit einem Nimbus versehen. Die Patrone des Frankfurter Doms stehen auf braun laviertem Untergrund, auf dem vereinzelt Grasbüschel angedeutet sind.

Das Patrozinium des heiligen Bartholomäus setzte sich im Frankfurter Stift mit dem Erwerb seiner Reliquien in der Zeit um 1200 zunehmend durch. Seit Ende des 13. Jahrhunderts kam Karl der Große als Kirchenpatron hinzu. Er wurde 1165 von dem Gegenpapst Paschalis III. heiliggesprochen, seine Heiligsprechung war allerdings nicht im Kanon der Kirche aufgenommen worden.

Beide Patrone wurden im Frankfurter Dom seit dem 14. Jahrhundert mehrfach gemeinsam dargestellt: als Steinskulpturen am Außenportal des südlichen Domquerhauses (die Bartholomäusskulptur wurde 1944 zerstört), als lebensgroße Figuren im Chor, als Reliefs in den Wangen des hölzernen Chorgestühls, als Wandmalerei in der Wahlkapelle (sie wurde 1938 zerstört) und auf der Großen Turmmonstranz (um 1500).

Während Karl der Große gern mit Kirchenmodell sowie Schwert oder Szepter gezeigt wird, hält Bartholomäus die Haut und ein Buch oder das Schindmesser in seinen Händen. Selten, so stellt Michaela Schedl fest, ist der Apostel, wie im Kelkheimer Gerichtsbuch, mit allen drei Attributen versehen. Vorbild für die Kelkheimer Federzeichnung dürfte das „Liber Censuum" (1462) des Bartholomäusstifts (heute im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt/Main) gewesen sein. Nahezu identisch sind die Maße, die drei Attribute, die sich gegenüberstehenden Heiligen, die Verzierung der Nimben und die Farbwahl. Ein Eintrag auf folio 1 des „Liber Censuum" verweist auf den Schreiber: „hic liber scriptus est per D. Joannem Koenigstein Decanum anno 1462".

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Restaurierter Ledereinband des Gerichtsbuches. (Stadtarchiv Kelkheim)

Die Federzeichnung wird vermutlich zur selben Zeit ausgeführt worden sein. Die aufgeführten Parallelen lassen vermuten, daß der Zeichner des Kelkheimer Blattes dieses höchstwahrscheinlich kannte und es in Stil und Kleidung aktualisierte.

Verbindungen zum Kelkheimer Blatt entdeckt Michaela Schedl auch bei der um 1500 entstandenen Tafel der „Vierzehn Nothelfer" von Nikolaus Schit im Historischen Museum Frankfurt. Ähnlichkeiten sind bei der Figur des Hl. Georg und der Rüstung Karls des Großen ebenso auszumachen wie bei der Physiognomie des heiligen Bartholomäus und des heiligen Ägidius (mit Hirschkuh). Kopf und Gewand Karls des Großen sind mit der Darstellung des heiligen Christophorus vergleichbar.

Orientierung zur Gestalt und Physiognomie von Heiligen gab die Legenda Aurea, eine Sammlung von Legenden des Dominikanermönchs Jacobus von Voragine (Ende des 13. Jahrhunderts). Diese beschreibt den heiligen Bartholomäus mit schwarzem und krausem Haar, „er hat ein weißes Kleid an mit Purpur gesäumt, drüber hat er einen weißen Mantel".

Karl der Große dagegen wird vielfach in herrschaftlichen Gewändern, später, Ende des 15. Jahrhunderts, vermehrt wie in der Kelkheimer Zeichnung in Vollrüstung und gefibeltem Mantel gezeigt.

Schlußfolgerung

Da die Aufzeichnungen im Kelkheimer Gerichtsbuch im Jahr 1514 beginnen, folgert Michaela Schedl, daß die qualitätvolle, kolorierte Federzeichnung des heiligen Bartholomäus und Karls des Großen um diese Zeit oder etwas früher entstanden sein muß.

Der Vergleich mit der Federzeichnung des 1462 verfaßten „Liber Censuum", dem Zinsbuch des Frankfurter Bartholomäusstifts, zeigt, daß der Zeichner des Kelkheimer Blattes dieses sehr wahrscheinlich kannte. Er paßte die Kleidung dem Zeitstil an und veränderte Details.

Da das Zinsbuch in Frankfurt für das Bartholomäusstift geschrieben wurde, ist zudem anzunehmen, daß diese Zeichnung ebenso wie das spätere Kelkheimer Blatt von einem Maler in Frankfurt gefertigt wurde.

Zur Entstehungszeit der Kelkheimer Zeichnung waren folgende Buch-, Glas-, Wand- und Tafelmaler in Frankfurt tätig:

Hans Abel von Ulm (1484-1540), die Malerin Anna (1513-1518), Martin Caldenbach, gen. Heß (1480-1518), Conrad Dul, gen. Friedberger (1503-1517), Hans Fyoll (1460-1531), Christof Gobel aus Speyer (1511-1545), der Maler und Bildhauer Mathis Grün (1510-1532), Heinrich Marx aus Aachen (1491-1513), Jerg Ratgeb (1508-1526), die Glasmaler Matheus Raugraf (1515) und Conrad von Schotten (1475-1516), ein Maler Peter (1511), ein Maler Valentin (1511-1519), Georg Würzburger aus Mainz (1503 -1522), Hans Wurzgart (1494-1522) sowie Conrad Zwigk (1483-1518).

Daß dieser Frankfurter Künstler auf der Höhe der Zeit war und sich an aktuellen Vorlagen - Holzschnitten und Kupferstichen, Musterbüchern und Tafelbildern - orientierte, läßt der Vergleich mit der Darstellung der „Vierzehn Nothelfer" von Nikolaus Schit erkennen. Die Kelkheimer Zeichnung kommt dem Zeitstil der Tafel sehr nahe.

Auch wenn nicht eine bestimmte Künstlerpersönlichkeit für die Zeichnung benannt werden kann, so kann doch zumindest auf Werke im Mittelrheingebiet und Frankfurt verwiesen werden, zu denen sich Bezüge herstellen lassen.

Die kolorierte Federzeichnung im Kelkheimer Gerichtsbuch ist somit ein Beleg für die künstlerische Virtuosität eines in Frankfurt tätigen Zeichners, der diese um 1514 für das Gerichtsbuch geschaffen hat.

Wie in Kelkheim so wartet in den Archiven des Main-Taunus-Kreises so manche unentdeckte Kostbarkeit darauf, entdeckt, restauriert und konserviert zu werden, um als Kulturerbe in neuem Glanz zu erstrahlen.

Anmerkungen

1 Die Schätzung wurde von Prof. August Heuser, Leiter des Dommuseums Frankfurt am Main vorgenommen-

Aus:
MTK-Jahrbuch 2010
MTK2010 002