Industrialisierung und Stadtentwicklung in Hochheim im neunzehnten Jahrhundert

Friedhelm Henne

Als 1803 durch Entscheid des Reichsdeputationshauptschlusses der Flecken Hochheim an das Herzogtum Nassau-Usingen kam, bestand die Hochheimer Gesellschaft aus einer feudal adligen und klerikalen Schicht des Kurfürstentums Mainz. Diesen gehörten die größeren Weingüter und Häuser in der Hochheimer Altstadt.

1805 zählte Hochheim 2.205 Einwohner, die Stadtmauer war noch vollständig vorhanden mit drei Stadttoren und einer Pforte nach Norden.

Jetzt wuchs das Bürgertum in Hochheim. Handwerker, Händler, Winzer und Beamte in der neuen Landesherrschaft interessierten sich für die Vermehrung ihres Privateigentums. Das Interesse an Grundeigentum nahm zu. In Hochheim z. B. wurde der Besitz der Mainzer Domdechanei an die Familie Aschrott, einer Tuchhändlerfamilie aus Frankfurt, verkauft.

Die Stadtmauer fällt

Nach dem Befreiungskrieg 1813/14 erhielt Hochheim von der Nassauischen Regierung die Anweisung, die Stadtmauer niederzureißen. Zwei Jahre später wurde, gegen den Widerstand der Stadt, das Mainzer Tor per öffentlicher Versteigerung zum Abbruch freigegeben. Weite Teile der Stadtmauer wurden abgerissen. Seitens der nassauschen Behörden wurde Hochheim im öffentlichen Briefverkehr als Stadt tituliert.

Die Altstadt war zu klein, um zu expandieren. Als Erschließungsgebiet sahen die Hochheimer Stadtväter das Gebiet im Norden der Altstadt. Die Haupterschließungsstraße war die neue Straße Richtung Nordenstadt. Diese trennte gleichzeitig das neue östliche und westliche Erschließungsgebiet nördlich der Altstadt. Anfangs nannte man die neue Straße „Gänsgass", weil hier die Gänse und anderes Federvieh zum nördlich gelegenen Weiher getrieben wurden.

Sektstadt Hochheim seit 1832

In diesem Jahr verkaufte Ignatz Schweickardt, ein geborener Hochheimer, den ersten aus Hochheimer Wein hergestellten Sekt im elterlichen Lokal, der Burg Ehrenfels (heute Hochheimer Hof).

Ignatz Schweickardt war besessen davon, aus Hochheimer Weinen ein sprudelndes Getränk, dem Champagner gleich, herzustellen. Die entsprechende Ausbildung hatte er auf Empfehlung seines Paten Eduard Werle aus Hattersheim erhalten. Dieser war 1815 nach Reims gegangen und hatte es inzwischen zum Kellermeister der dortigen Champagnerkellerei Veuve Cliquot gebracht.

Die Experimente im elterlichen Keller von 1830 - 1832 verbrauchten seine gesamten Geldmittel. Er benötigte jedoch neues Kapital, vor allem um zur Herstellung von Hochheimer Mousseux Grundweine zu kaufen. Die Familie Burgeff aus Geisenheim hörte von der Geldnot Schweickardts, und stellte entsprechende Mittel zur Verfügung. Gemeinsam gründete man die Firma Schweickardt & Burgeff. Die Vertragschließenden vereinbarten die Fabrikation moussierender Hochheimer Weine. Es war dies das erste Unternehmen dieser Art im Herzogtum Nassau. Und es war dies die erste Rheinische Sektkellerei.

Als zukünftiges Betriebsgelände wurde das damals unbebaute Gelände vor der Hochheimer Stadtmauer (an der Burgeff Strasse/ Wiesbadener Strasse/Mainzer Strasse) der Stadt abgekauft. In der jungen Firma lief die Produktion des Hochheimer Mousseux, der Absatz florierte. Bereits ein Jahr später zählte der Bestand 20.000 Flaschen Schaumwein, zu denen täglich 1.500 hinzukamen.
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Hochheim um 1900
(Postkarte: Sammlung Förderverein Hochheimer Heimat- und Stadtkultur)

Das neue Betriebsgelände war großzügig angelegt, um für Produktion und Lagerung ausreichend Platz zu bieten. Für die Grundweinlagerung baute man bis etwa 1840 Faßkeller. Hier lagerten die eingekauften Weine bis zur Herstellung des Cuvees.

Zum Wasserweg und zur Straßenanbindung kam 1840 die Eisenbahn als weiterer Verkehrsweg. Ein Jahr später wurde die Villa Burgeff an der Mainzer Straße fertig gestellt. Sie war die erste in Hochheim gebaute repräsentative Fabrikanten-Villa für Carl Burgeff und seine Familie.

Die Stadtentwicklung nördlich der Altstadt

Nach Taxierung durch den Hochheimer Stadtrat waren Bauplätze nördlich der Altstadt für ca. 5 fl. bis 8 fl. pro qm zu kaufen. Das erste Haus außerhalb der ehemaligen Stadtmauer wurde 1836 an der Ecke Burgeffstraße/Weiherstraße gebaut. An der Weiherstraße entstanden 1839/40 die ersten Häuser, u. a. die auf der linken Seite Nr. 14 bis 24. Die Evangelische Kirche kaufte 1847 den Boller'schen Garten in der Gartenstraße. In den folgenden Jahren wurden auch Grundstücke an den Nebenstraßen bebaut. Man erweiterte das Baugebiet, das im ersten Bauabschnitt bis zur heutigen Elisabethenstraße reichte. Der zweite Erschließungsbereich endete am Weiher (heutige Alleestraße).

Mehr und mehr bauten sich Mitarbeiter der Malzfabrik und der Sektkellereien (sechs Kellereien um 1900), in den Straßen links und rechts der Weiherstraße ihre Familienhäuser. Verdiente Mitarbeiter erhielten zur Finanzierung sogar finanzielle Zuwendungen von ihren Arbeitgebern. Die Bauarbeiten wurden vielfach in Eigenleistung erbracht. Bestanden die Häuser in den ersten Jahren noch aus verputztem Fachwerk mit Lehmschlagwänden, setzte sich in den 1860-er Jahren der hart gebrannte, vermauerte Ziegel als Baumaterial durch.

Weitere Industriebetriebe siedeln sich an
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Eines der einstöckigen Häuser in Hochheim aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
(Foto: Friedhelm Henne)

Am 12. Januar 1857 wurde in Hochheim ein weiterer Industriebetrieb, die Malzfabrik, gegründet. August von Schlemmer erwarb ein Anwesen in der Kirchstraße 28 (heute gegenüber dem ehemaligen Rathaus). Auf dem Grundstück standen zu dieser Zeit eine Brauerei und ein Malz- und Kühlhaus. Hier begann er mit der Malzfabrikation. Der Rohstoff, das Getreide, wuchs auf den fruchtbaren Böden rund um Hochheim. In Hochheim selbst gab es zu diesem Zeitpunkt mehrere Brauereien, zum Teil mit angeschlossenen Gasthäusern. Also eine gute Ausgangsbasis für eine moderne Mälzerei, die mehr maschinelle Technik einsetzte und kostengünstig produzieren konnte.

Mit dem Bemühen zur Erweiterung der Produktion begann August von Schlemmer bereits sechs Jahre nach Gründung seines Betriebes in Hochheim. Er erwarb am östlichen Rand der Altstadt, vor dem ehemaligen Holztor, auch Frankfurter Tor genannt, entlang der Frankfurter  und Flörsheimer Straße, ab Ecke Hintergasse, ein Grundstück mit mehreren Gebäuden, darunter das Gasthaus „Zum Adler" (heute Fanni Schücker). Die Produktion aus der Kirchstraße wurde Zug um Zug in die neue Fabrikation verlagert. Die neue Produktionsstätte erwies sich als guter Arbeitgeber in Hochheim, denn auch hier fanden Hochheimer und Zugezogene gut bezahlte Arbeitsplätze.

Am 21. November 1869 wurde in Hochheim die erste Bank gegründet, der „Vorschuß- und Creditverein", dessen Statuten mit Verfügung des königlichen Kreis-Gerichtes in Wiesbaden genehmigt wurden.

Damit hatten sich die Hochheimer ein genossenschaftliches Kreditinstitut geschaffen, mit dem es möglich war, die Expansion des Handwerks, der Industrie und private Investitionen mit Krediten zu finanzieren. Das brachte einen weiteren Schub in den privaten Wohnungs- und Hausbau in Hochheim. In dem Neubaugebiet etablierten sich Kolonialwarenläden, Bäckereien, Metzger und andere Händler des täglichen Bedarfs. Die Stadt legte Brunnen an, aus denen die Anwohner sich Wasser schöpfen konnten. (Erst 1896 baute die Stadt den Wasserturm an der Massenheimer Landstrasse und begann die Trinkwasserversorgung mit einem Leitungsnetz zu etablieren.)

Die zweite Schaumweinfabrik in Hochheim ließ sich 1872 in der Straße „Am Plan" nieder, gegründet von Peter Boller. Er ließ seine Mitarbeiter in seinen Häusern rund um die Fabrik wohnen. Die Zahl der Einwohner wuchs in den nächsten Jahren um etwa 100 Personen pro Jahr. Das wurde erreicht durch den Zuzug weiterer Arbeiter für die sich ansiedelnden Sekthersteller.

1877 wurde die Sektkellerei Graeger gegründet; 1881 die Sektkellerei Kunz & Boller in der Mainzer Straße. 1885 gründete sich die Sektkellerei C. Bachem und Cie.; 1889 Fuchs & Werum in der Frankfurter Straße; 1895 hieß der nächste Betrieb Champagnerkellerei Fanter & Co, sowie die Sektkellerei Fritz; Hochheim zählte bereits 3.083 Einwohner.

Fast 4 Mio. Liter Wein wurden um 1900 pro Jahr in Deutschland zu Schaumwein verarbeitet, davon allein 1 Mio. Liter durch Burgeff in Hochheim. Sie war zu dieser Zeit die größte Sektkellerei im Deutschen Kaiserreich. Auch das Handwerk als Zulieferer für die sich entwickelnde Hochheimer Industrie wuchs, insbesondere Schreinerbetriebe und das Küferhandwerk; aber auch das Baugewerbe florierte.

1900 hatte Hochheim 3.748 Einwohner. Der Verschönerungsverein unterstützte die Anpflanzung von Bäumen rund um den Weiher. Bereits damals hieß es: Hochheim soll schöner werden.

Aus:
MTK-Jahrbuch 2010

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