Jüdische Sitten und Bräuche am Beispiel des Friedhofes in Bad Soden
WOLFGANG ZINK

Edith Vetter und Kurt Wagner haben 1987 für den „Arbeitskreis für Bad Sodener Geschichte" dankenswerterweise ein ausführliches Heft zum lokalen jüdischen Friedhof, dessen Geschichte und Gräberverzeichnis, basierend auf dem ,,Protocoll = Buch der Israelitischen Todenhofs. Anlage", herausgegeben. Auch über die ehemaligen jüdischen Friedhöfe Hochheims, Flörsheims, Hofheim-Wallaus, Eppsteins und Niederhofheims gibt es Aufzeichnungen, Berichte oder größere Darstellungen. Um so interessanter ist es vielleicht, anhand des o.g. Heftes in Vergessenheit geratene jüdische Sitten und Bräuche zusammenhängend darzustellen, die sich mit dem Tod befassen und heute noch praktiziert werden, wo jüdische Gemeinden sind.

Lage und Beschaffenheit aus jüdischer Sicht

Auffälligerweise lagen alle jüdischen Friedhöfe, so auch der Bad Sodener und andere im Kreisgebiet, bei ihrer Entstehung und Weihung außerhalb bewohnter und bearbeiteter Flächen. Ein Stück Land war im Sinne des jüdischen Glaubens zum Friedhof geeignet, also „koscher", wenn es nach menschlichem Wissen und Ermessen niemals bebaut oder bearbeitet gewesen war. Auf ihm durfte sich keine Gerichtsstätte befunden, kein Verbrechen - auch verborgen geblieben - ereignet haben, kein unschuldiges Blut vergossen worden sein. Aus diesen Gründen boten sich fast ausschließlich Wiesen in Waldstücken, Feldraine, leichte Abhänge als Gelände an, häufig in der Nähe von Bächen und Quellen.

Seit dem Grabkauf Abrahams vor rund 3.800 Jahren (1. Mos. 23) war der Geländekauf zu Friedhofszwecken religiöse Pflicht; die z. B. in Königstein-Falkenstein, wo die Neuenhainer Juden ihre Toten begruben, noch 1911 erneut nur gestattete Erbpacht zwang Juden, ihren Glauben zu verletzen.

Hinzu kam ein weiteres Kriterium: Seit dem frühen Mittelalter bildeten mehrere jüdische Gemeinden aus Geldmangel oder weil von der Obrigkeit nicht anders gestattet wie z. B. in Höchst, gemeinsame Begräbnisbezirke, die einen Sammelfriedhof unterhielten. Ein solcher war der Bad Sodener, der auch den „Israelitischen Cultusgemeinden" von Höchst am Main (incl. Unterliederbach), Okriftel, Hattersheim und Hofheim diente, wie sein Protokollbuch ausweist.

Er mußte daher so zentral angelegt sein, daß eine durch religiöse Vorschriften bestimmte Maximalentfernung zu all diesen Gemeinden nicht überschritten wurde. Insofern lag der alte Niederhofheimer Friedhof günstiger. Und da Juden bis um 1860 verdoppelte und Sonderzölle wie -steuern an jedem Schlagbaum zu zahlen hatten, mußte die Friedhofslage das Passieren möglichst weniger Zollstellen gewährleisten. Für fromme Juden ist es nämlich religiöse Pflicht, einen zufällig vorbeiziehenden Leichenzug eine Strecke zu begleiten. Auf diese Weise trat kein Jude, keine Jüdin, ob reich oder arm, seinen/ihren letzten Gang alleine an.

Jüdische Friedhofsnamen und ihre Bedeutung

Schon das Protokollbuch des Bad Sodener Friedhofes hatte diesen im Gegensatz zur christlichen Namensgebung nicht „Fried-" oder gar „Kirchenhof", sondern „Todenhof" genannt. Dieser Ausdruck bezeichnete anders als „Toten-" oder wie z. B. ein alter Bad Homburger Gewanname „Judenacker" eine umzäumte oder mit einer Mauer umgebene Begräbnisstätte. Derartige Einfriedungen waren Juden erst zu Beginn der Neuzeit erlaubt, im liberalen Bad Homburg z. B. ab 1684.

Jüdische Friedhöfe wurden erforderlich, nachdem Juden aus ihrer Heimat, Erez Jisrael, vertrieben waren, erstmalig 587 v. d. Z. im babylonischen Exil. Bis dahin und nach ihrer Rückkehr wurden die Toten in

Familiengrüften bestattet, meist in den karstigen Fels Israels gehauen. Darauf bezieht sich der biblische Name „Beth HaKwarot" ( = Gebeinhaus). Eine solche Gruft kaufte schon Abraham für seine Familie in Hebron; und Jesus wurde z. B. in der neuen Familiengruft des Joseph von Arimathia bestattet (Mk. 15/Lk. 37/Mt. 27).

Die biblischen Propheten sprechen dagegen vom „Beth Olam" (= Haus der Ewigkeit) im Gegensatz zum „Beth Adonai" (= Tempel), obwohl ein Friedhof kein sichtbares Gebäude darstellt. Der jüdische Volksmund nennt diesen Ort schlicht „Makom Tov" (= guter Ort), weil es hier Juden endlich gut ging, sie die langersehnte Ruhe im Gegensatz zum ständig von Gefahr und Vertreibung gezeichneten irdischen Leben fanden.

Nur drei heilige Stätten lehrt der jüdische Glaube: Tempel, das Land Israel und Friedhof. Heilig deshalb, weil an diesen der Herr der Welt ständig gegenwärtig ist. Die Heiligkeit jüdischer Friedhöfe und die Rechte der Toten zu wahren, ist allen Lebenden geboten. Deshalb soll auch die Schabathruhe der Toten am Samstag nicht durch das Betreten gestört werden; deshalb sollen auch Nichtjuden beim Betreten ihren Kopf bedecken. Dies wissend - und um nicht nur hierin Juden völlig zu entmenschlichen - haben Nazis die systematische Schändung, Zerstörung und Einebnung jüdischer Friedhöfe betrieben. So wurde 1933 im Main-Taunus-Kreis der alte Friedhof in Niederhofheim platt gemacht und 1938 zur Reichspogromnacht die Leichenhalle des neuen Sodener Friedhofes beschädigt und entweiht wie viele Synagogen, Gräber und andere Friedhöfe. Aus diesen Gründen ist auch die erst 1989 wieder geschehene Friedhofsschändung in Bad Soden durch Neonazis wie jede andere ungeheuerlich.

Leichenhalle und Chewra Kadischa

Die Sodener Leichenhalle lag - wie talmudisch geboten und aus Lageplänen ersichtlich - außerhalb des eigentlichen Friedhofsgeländes. Sie diente mit ihren zwei Räumen nicht nur zum Abhalten des Begräbnisgottesdienstes bei Schnee oder starkem Regen, sie beherbergte auch die zur Bestattung und vorgeschriebenen Totenwaschung erforderlichen rituellen Gerätschaften und Gebetbücher, Kopfbedeckungen etc., sie konnte auch zur Aufbewahrung von Sargbrettern und Tischlerwerkzeugen dienen und insbesondere für seit alters her aus Israel herbeigebrachte Erde. Diese wurde bei der Beerdigung den Toten unter dem Kopf beigegeben, damit diese noch im Tod die Mizwa (= gute Tat) des Begrabenseins in der Erde Israels erfüllen konnten. Im Glauben an das Kommen des Meschiach ben Dabid (= Messias) und die Auferweckung aller Toten am Ende der Zeiten wurde jeder Leichnam mit dem Gesicht nach Osten, nach Jerusalem/Zion, bestattet, von wo die Erlösung der Menschheit kommen soll. Deshalb sind jüdische Friedhöfe auch im Main-Taunus-Kreis in West- Ostrichtung angelegt.

Die Leichenhalle bot durch Lage und bauliche Konstruktion den Kohanim, den leiblichen Nachfahren des Priestergeschlechtes, im Deutschen an Nachnamen wie Kohn, Kohnle, Cohnen, Kahn, Kühn, Katz erkennbar, wenigstens die Möglichkeit, aus der Entfernung an der Beerdigung enger Angehöriger teilzunehmen. Ansonsten war diesen die Berührung von Toten und das Betreten der Totenstätte strengstens untersagt, da sie sich dadurch für das nach biblischer Überlieferung jederzeit mögliche Kommen des Messias und die damit verbundene Wiederaufnahme des Tempelkultes „treife" (= untauglich) gemacht hätten.

Seit 2000 Jahren verantwortlich für einen Friedhof waren in einer funktionierenden jüdischen Gemeinde 10 gewählte, freiwillig und ehrenamtlich tätige Männer sowie Frauen, die Chewra Kadischa (= Heilige Gemeinschaft). Sie konnte aufgrund ihrer Anzahl einen Minjan (= Mindestzahl) für Gottesdienste bilden, besuchte, pflegte und versorgte medizinisch Schwerkranke, tröstete die Sterbenden und ihre Angehörigen, besorgte die Leichenwaschung und -bestattung, kochte die ersten Mahlzeiten für die Trauernden, so daß diese sich um nichts kümmern brauchten und sich ganz ihrem Schmerz hingeben konnten. Dies war bei ausländischen Kurgästen, wie sie in Bad Soden begraben sind, besonders wichtig.

Totenbräuche, Trauerzeit und der Sinn von Grabsteinen

Jüdische Bräuche und Glaubenspflichten beginnen bereits beim nahenden Tod eines Menschen. Stets soll jemand um ihn sein, damit er/sie nicht alleine stirbt, stets sollen Angehörige und Männer der Chewra Kadischa sich abwechseln, damit die seelische Last für den einzelnen nicht zu schwer wird, stets sollen alle sich auch um die betroffene Familie kümmern. Nach Eintritt des Todes wird am Fußende das Totenlicht entzündet, alle Spiegel im Haus weiß verhängt, die talmudisch vorgeschriebene Totenuntersuchung, z. B. ob nicht scheintot, durch die Chewra Kadischa vorgenommen, dann folgt die Totenwaschung, Einkleidung mit dem weißen Kittel (= Totenhemd), der zu Lebzeiten zur Feier des Pessach (= Passah) und Jom Kippur (Versöhnungstag) in Erinnerung an die menschliche Sterblichkeit jedes Jahr getragen wird. Bei Männern kommen noch Tallith (= Gebetsmantel) und Kipa (= Kopfbedeckung) hinzu, ein Schleier bei Frauen. An der Außenseite der Haustür wird zur Handwaschung und als sichtbares Zeichen des Todes eine Wasserkanne mit Waschschüssel und weißem Handtuch aufgestellt, da Weiß die Farbe der Trauer im Judentum ist. Der Leichnam bleibt im Sterbebett und -zimmer liegen, dessen Tür geschlossen wird.

Nach jüdischem Glauben soll ein Toter - auch im Hinblick auf die Wärme orientalischer Länder - noch am selben Tage bzw. spätestens am kommenden beerdigt werden. Dies soll es auch der weiterlebenden Seele schneller ermöglichen, vom irdischen Körper Abschied zu nehmen. Christliche Obrigkeit zwang jedoch Juden dazu, erst nach 3 Tagen zu bestatten, ihren Glauben zu verletzen. Deshalb sind auf Grabsteinen frommer Juden in Bad Soden Todes- und Beerdigungsdatum gesondert genannt.
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Grabstein für Wolf Kahn mit den segnenden Händen der Kohanim und deren Nachkommen, seit 70 n.d.Z. ununterbrochen tradiert.
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Grabstein für Clara Weinreb mit dem Symbol der Öllampe, die dadurch als Tochter eines Leviten ausgewiesen wird.

Im Tod soll sich nach jüdischer Vorstellung kein Mensch vom anderen unterscheiden. Deshalb ist nicht nur die Totenkleidung für alle gleich, sondern waren es ursprünglich auch die Grabsteine in ihrer Form, die Särge und die Grabstätten. Noch heute traditionell in der Diaspora ist ein schlichter Holzsarg, als dessen einzige Zierde der hebräische Buchstabe Schin (= steht für El Schaddaj, Gott der Allmächtige) auf dem Sargdeckel steht. Die allzu üppige Gestaltung von Gewändern, Särgen, Grabsteinen und Gräbern kann nämlich als Totenverehrung und damit als Verletzung des zweiten der 10 biblischen Gebote verstanden werden. Zugleich ist das Pflanzen eines Gewächses auf dem „Todenhof" Schöpfung, Schaffung von Leben im Haus der Toten. Dieses muß allein dem Herrn über Leben und Tod vorbehalten bleiben. Erst die jüdische Reformbewegung und die Assimilation an christliche Friedhöfe haben hierin eine Veränderung bewirkt, wie die noch erhaltenen Grabsteine, Inschriften und Grabeinfriedungen in Bad Soden dokumentieren.

Mit dem Tod wird der Angehörige zum ,,Onen" (= Seufzenden), von jeglicher Tätigkeit, auch Hausarbeit befreit, die andere tun. Er/sie soll sich ganz dem Schmerz, Fasten und dem Abschiednehmen hingeben können. Mit der Beerdigung beginnt die Schiwa ( = sieben Tage), die Trauerwoche, und sieben Angehörige sind die Awelim ( = Trauernden): Vater/Mutter, Sohn/Tochter, Bruder/Schwester, Ehegatte/-in. Schon Joseph betrauerte vor 3.500 Jahren seinen Vater für 7 Tage (l. Mos. 50,10). Sie schneiden Haare und Bärte nicht, verrichten nur leichte Hausarbeit, sitzen barfuß in Hocke auf dem Boden und verlassen das Trauerhaus nicht. Für Vater/Mutter dauert die Trauerzeit ein jüdisches Jahr, für andere Angehörige 30 Tage, die Schloschim (= 30), ab dem Todestag gerechnet. Während dieser Trauerzeit soll das Ner Tamid (= Ewiges Licht) ständig brennen. Nach den 7 Tagen muß jedoch wieder voll gearbeitet werden, damit ein Mensch sich in seinem Schmerz nicht verliert und dem Leben wieder zuwendet. Nach dem Trauerjahr wird der Grabstein ans Kopfende mit der Schriftseite nach Osten am Grab gesetzt, wie es Jakob vor 3.600 Jahren tat (l. Mos. 35). Von da an soll auf diesem am Todestag jährlich das Totenlicht entzündet werden zur Erinnerung. Erinnert wird aber auch durch das öffentliche Sprechen des Totengebetes ( = Kaddisch) während der Trauerzeit und danach am Todestag sowie durch das Ausrufen des Namens Verstorbener in besonderen Gedenkgottesdiensten während der Hohen Feiertage. Erinnert wird aber auch beim Besuch von Gräbern auf einem jüdischen Friedhof durch das Auflegen von Steinen auf dem Grabstein. Dieser Brauch stammt aus der Zeit der Wüsten-Wanderung, als es nicht möglich war, Grüfte in die Steinwüsten zwischen Ägypten und Israel zu schlagen und so Gräber markiert und zugleich vor der Zerstörung durch wilde Tiere geschützt wurden. Auch in Bad Soden sind immer wieder Gräber besucht worden, wie diese Steinchen erzählen.

Beerdigung und das Leben nach dem Tode

Wir Juden glauben an ein Weiterleben der Seele und an eine leibliche Auferweckung am Jüngsten Tag. So wird ein Friedhof auch "Beth Ha Chajim'' (= Haus der Lebenden) genannt. Deshalb kann nur eine leibliche Bestattung stattfinden und deshalb hat jede/r Tote Recht auf ein eigenes Grab. Deshalb werden Umbettungen oder Mehrfachbestattungen nur unter Zwang vorgenommen und werfen enorme religiöse Probleme auf, und deshalb war das Verbrennen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern eine ungeheuerliche Demütigung nach dem Tode. Deshalb müssen selbst geschlossene jüdische Friedhöfe erhalten werden, auch wenn es keine jüdische Gemeinde mehr gibt.

Die Teilnahme an einer Beerdigung, die Grabbereitung und -zuschüttung ist eine der höchsten religiösen Pflichten. Nach dem kurzen Trauergottesdienst - eine Grabrede ist unüblich - werden drei Schaufeln Erde von den Awelim ins Grab gegeben, dann schütten alle Anwesenden das Grab zu. Sie bilden ein Spalier, durch das die Trauernden gehen, um sie jetzt - erst beim geschlossenen Grab - zu trösten. Zuvor haben diese ihre Kleidung als Zeichen des Schmerzes eingerissen (= Kriah), wie es Ruben tat, als er seinen Bruder Joseph für tot hielt (l. Mos. 37). Danach reißen sie Gras aus und werfen es hinter sich in Erinnerung an das verheißende ewige Leben aller Toten (Ps. 72,16). Die Hände werden am Friedhofsausgang gewaschen, um sich von der Sphäre des Todes zu reinigen. Um den Leidtragenden zu helfen, haben Freunde, Nachbarn oder Angehörige der Chewra Kadischa für diese die Se'udat Hawra'a (= starkende Mahlzeit) zubereitet.

Jetzt sollen die Leidtragenden essen, nicht jedoch die Trauergemeinde. Eine Totenmahlzeit nach der Beerdigung gibt es im Judentum nicht. Sie ist nicht einmal ein christlicher, sondern germanischer Brauch.

All diese Sitten und Brauche waren noch vor 60 Jahren Bestandteil des Lebens in Bad Soden und wo immer es jüdische Gemeinden gab. Alte Menschen erinnern sich vielleicht noch daran. Der Talmud lehrt: ,, Wer vergißt, tötet zum zweiten Mal.'' Deshalb sollten wir alle diese Toten, ihre Art zu leben und ihren Glauben nicht vergessen auf den jüdischen Friedhöfen des Main-Taunus-Kreises.

 

Anmerkung:

Die zwei Abbildungen wurden entnommen aus: Edith Vetter und Kurt Wagner, Der jüdische Friedhof Bad Soden am Taunus. Bad Soden 1987 (Materialien zur Bad Sodener Geschichte 3).

Aus: Zwischen Main und Taunus – MTK-Jahrbuch 1993