„Und sie waren des demokratischen Treibens müde":
Kriftel in revolutionärer Zeit

WILFRIED KREMENTZ

Die Revolution von 1848/49 - also vor 160 Jahren - war ein Versuch, die Ziele von Einheit und Freiheit in Deutschland zu verwirklichen. Um dies in die Tat umzusetzen, bildete sich das erste deutsche Parlament, die in der Frankfurter Paulskirche tagende Nationalversammlung. Die demokratischen Bemühungen scheiterten an der Machtlosigkeit dieses Parlamentes, am Widerstand der alten Dynastien und der königstreuen Truppen, aber auch an den wachsenden Gegensätzen im eigenen Lager.

Neben politischen Forderungen war der Landbevölkerung vor allem an der Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse gelegen. So forderten die Krifteler Bauern die entschädigungslose Beseitigung der noch vorhandenen feudalen Abgaben, Abschaffung des herrschaftlichen Jagdrechtes, freien Anteil am Gemeindewald und an gemeindeeigenen Wiesen und Weiden. Nachdem Herzog Adolph von Nassau am 4. März 1848 der vor dem Wiesbadener Schloß protestierenden riesigen Menschenmenge versprochen hatte, ihre Forderungen zu erfüllen, legten die Krifteler die neugewonnene Freiheit auf ihre Weise aus. Sie gingen in den Gemeindewald am Staufen, schlugen Holz so viel sie wollten und veranstalteten Treibjagden. Eine der Forderungen war die allgemeine Volksbewaffnung mit freier Wahl der Anführer gewesen. Überall im Land bildeten sich Bürgerwehren, so auch in Kriftel. Für die neu gebildete Truppe schaffte die Gemeinde eine Trommel an.

Die dramatischen Stunden des 4. März 1848 faßte der aus Diedenbergen stammende Zeitungssänger Philipp Keim (1804-1884) in einem vierzehn Strophen umfassenden Lied zusammen. Herzog Adolph hatte sich in Berlin aufgehalten und eilte in Anbetracht der bedrohlichen Situation von 30.000 bewaffneten Demonstranten (manche Quellen sprechen von 40.000) nach Wiesbaden zurück. Vor der Ankunft des Herzogs hatte Minister Dungern, die Stiefmutter des Herzogs, Herzogin Pauline, und deren Sohn Prinz Nikolaus die Erfüllung aller Forderungen zugesagt. Die erregte Menschenmenge wollte dies jedoch aus dem Munde des Herzogs hören und die Erstürmung des Schlosses und Ausrufung der Republik schien unmittelbar bevorzustehen. Die beiden letzten Strophen des Liedes von Philipp Keim schildern die Ankunft des Herzogs:

„Wir grüßen unsern Fürst ja hier, Adolph Herzog mit Ton;
Begleitung in das Schloß geziert; er kam auf den Balkon;
Er winkte dort mit seinem Hut - so still ist's wie am Grab;
Nassauer Treue höret zu, was ich nun hier Euch sag:
Was mein Minister, meine Mutter hier, mein Bruder Euch versprach,
Das sag ich Euch mit einem Wort: Das halte ich Euch auch!
Das ganze Volk das rufet nun: Adolph! Herzog! leb hoch!
Er schwenkte nochmals seinen Hut; Das Volk den Ton einzog,
Nassauer, Treue, höret an! bleibt standhaft, alle fest.
Wann uns der Feind sollt greifen an, ich bin Euch treu gewiß,
Bleibt mir so treu, wie ich Euch bin, mit Dank sag ich es aus:
So geht in Gottes Namen hin, ja jeder in sein Haus!"
 

Ludwig Börner, Schultheiß in Kriftel

Als im Oktober 1829 Schultheiß Ludwig Hahn sein Amt wegen Krankheit und Altersschwäche zur Verfügung stellen mußte, wurde der bisherige Feldgerichtsschöffe Ludwig Börner vom Amt in Höchst zu dessen Nachfolger ernannt. Ludwig Börner muß ein sehr selbstbewußter Mann gewesen sein, denn immer wieder gab es Beschwerden wegen seiner eigenmächtigen Entscheidungen.

Und sie waren - Kriftel 001

Gemeindevorsteher Martin Krementz (1804-1885) Gegner von Schultheiß Ludwig Börner, wanderte 1849/50 in die USA aus.
Foto: Professor Walter E. Kaegi, Chicago, USA

Im Februar 1846 forderten die drei Gemeindevorsteher Martin Krementz, Adam Lebkücher und Johann Theis die Herzogliche Landesregierung auf, den Schultheißen wegen Dienstvergehen und wegen seiner eigenmächtigen Handlungen zu bestrafen:

„Überhaupt läßt der Herr Schultheiß Börner, nicht wie in anderen Gemeinden geschieht, die Ortsvorstandsmitglieder bei öffentlichen allgemeinen Angelegenheiten versammeln, sondern macht eigenmächtig alles allein und zieht darüber niemand zu Rat. Bei einem solchen eigenmächtigen Handeln wäre es nicht nötig, Gemeindevorsteher zu haben."

Die zehn Seiten umfassenden Anklagepunkte waren vor allem: Mißwirtschaft, Verschleuderung von Geldern, zunehmende Verschuldung der Gemeinde und Begünstigung einzelner Personen. Die Landesregierung empfahl dem Amt in Höchst, eine Untersuchung einzuleiten. Das Amt hielt dies für sinnlos, da eine Untersuchung in Kriftel sowieso zu keinem Ergebnis führen würde. Der kleine Ort wäre schon seit längerer Zeit in Hader und Zwiespalt geraten und es hätten sich zwei gegensätzliche Parteien gebildet. Was den Schultheißen Börner betreffe, so sei dieser „pünktlich und streng, gescheit und gewandt" und es gäbe keine Veranlassung, an seiner Rechtlichkeit zu zweifeln. Nur in einem Punkt wurde der Anklage stattgegeben. In Kriftel gab es eine fast 70 Jahre alte Hebamme, die ihren Dienst nur noch eingeschränkt versehen konnte. Bei mehreren Geburten hatte nur das schnelle Einschreiten eines herbeigerufenen Arztes schlimmeres verhindern können. Schultheiß Börner hatte sich trotz dieser Vorkommnisse geweigert, eine jüngere Hebamme anzustellen. Der um ein Gutachten gebetene Höchster Medizinalrat Dr. Thilenius bestätigte, daß die Hebamme nicht mehr vollständig dienstfähig sei und seit etlicher Zeit „nicht mehr gelobt" werden könne.Nur zehn Tage, nachdem Herzog Adolph im März 1848 die Forderungen der Nassauer zu erfüllen versprach, bat Ludwig Börner um Entlassung aus dem Schultheißendienst. Er schrieb:

„Schon 19 Jahre habe ich nun den mir von hoher Landesregierung aufgetragenen Dienst als Schultheiß mit allen mir zustehenden Kräften und mit Anstrengung getragen und die mir von meinen vorgesetzten Herren Beamten mir erteilten Aufträge pünktlich und gewissenhaft erfüllt. Ich kann mir sogar schmeicheln, daß mir von Herzogl.  hoher Landesregierung schon im Jahre 1835 wegen meiner guten und glücklichen Diensterfüllung die goldene Denkmünze verliehen wurde, welches Glück sich wenige Schultheißen im Herzogtum erfreuen können. Jetzt wird eine Verfolgung der Schultheißen rücksichtslos betrieben und besonders gegen diese, welche ihre Pflicht gegen geistliche und weltliche Obrigkeit gewissenhaft erfüllt haben und deren Treiben von Seiten der Herren vorgesetzten Beamten anscheinend nicht entgegengetreten wird. So sehe ich mich veranlaßt, das für mich äußerst bedrückende Wort auszusprechen, nämlich auf meine Entlassung anzufragen."

In vielen Gemeinden hatten die Schultheißen in der Revolutionszeit den aufgestauten Zorn der Bevölkerung zu spüren bekommen. Dies war offenbar auch in Kriftel der Fall, weshalb Schultheiß Börner so überstürzt um seine Entlassung bat. Dem Antrag wurde unverzüglich stattgegeben und am 17. März übergab Ludwig Börner die Schlüssel des Gemeinderegistraturzimmers, des Spritzenhauses sowie die Dienstsiegel an den Ortsvorstand und die Feldgerichtsschöffen. In einem von allen Beteiligten unterzeichneten Protokoll sind sämtliche im Registraturzimmer befindlichen Akten, Bücher, Zeitungen und sonstige Gegenstände aufgelistet.

Die erste freie Gemeindewahl

Die vom Herzog gewährten neuen Rechte beinhalteten Meinungs-, Vereins- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht freier Wahlen. Im April 1848 sollten Gemeindewahlen stattfinden. Hierzu konnte die neue Gemeindeordnung noch nicht angewandt werden, da diese erst im Dezember verabschiedet wurde. Wahlberechtigt waren alle männlichen Gemeindebürger. Ausgeschlossen blieben Bediente, Gesinde und Gesellen, weil diese ihren Verdienst von einem Arbeitgeber erhielten und somit nicht als wahlberechtigt galten. Erst das Gemeindegesetz vom 12. Dezember 1848 gestand auch dieser Gruppe die Wahlfähigkeit zu.

In Kriftel war das Problem entstanden, daß Schultheiß Börner vor der Wahl zurückgetreten war. Auf Anraten des Ortsvorstandes wurde daher Anton Hoß zum kommissarischen Schultheiß ernannt. Doch schon im Mai, also bereits nach zwei Monaten, bat auch dieser um Entlassung. Das Amt in Höchst teilte der Landesregierung mit, man habe sich vergebens bemüht, den Schultheißen zur Weiterführung des Dienstes bis zur Einführung des neuen Gemeindegesetzes zu bewegen. Anton Hoß sei ein alter, zierlicher und äußerst ängstlicher Mann, der den Problemen der gegenwärtigen Zeit kaum gewachsen sei. Darauf hin bat die Landesregierung das Amt, nochmals einen Versuch zu machen, um ihn doch noch umzustimmen. Sollten jedoch alle Bemühungen vergebens sein, so müsse alsbald die Wahl eines neuen kommissarischen Schultheißen erfolgen.'
Und sie waren - Kriftel 002

Aufruf von Herzog Adolph für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die Gesetze zu achten.
 

Am 6. Juni wurde angeordnet, daß die Wahl eines neuen kommissarischen Schultheißen am Samstag, den 10. Juni gegen 10.00 Uhr, mittels Stimmzettel stattfinden würde. In einem Protokoll ist beschrieben, wie diese Wahl abgelaufen ist. Zum angesetzten Zeitpunkt versammelten sich die Gemeindebürger. Der Wahlleiter ließ das bei Versammlungen übliche Zeichen mit der Glocke geben. Dann wurde den Wahlberechtigten die Wahlordnung verlesen. Besonders wurde darauf hingewiesen, daß nur hiesige Bürger wählen dürfen und es solle streng darauf geachtet werden, daß kein Unberechtigter einen Wahlzettel abgeben dürfe.

Und sie waren - Kriftel 003

Adam Weinbach (1819-1870), Bürgermeister in Kriftel von 1848-1854
Foto: Museum Wiesbaden, Sammlung Nassauischer Altertümer


Als Wahlurne diente eine Schublade. Die Auszählung der Stimmzettel ergab eine große Mehrheit für Adam Weinbach, den Eigentümer der Krifteler Mühle. Anschließend wurde auch noch über das Gehalt des neuen Schultheißen abgestimmt. Die Mehrheit sprach sich dafür aus, daß dessen Gehalt jährlich 75 Gulden betragen solle. Schultheiß Börner hatte jährlich 110 Gulden erhalten. Adam Weinbach wurde eine Woche später auf das Amt in Höchst bestellt, wo er seine Ernennung erhielt.

Wahldesaster in Kriftel

Am 1. Januar 1849 fand die Bürgermeisterwahl statt. Bisher war Adam Weinbach nur kommissarisch im Amt gewesen. Nach Inkrafttreten des Nassauischen Gemeindegesetzes hießen die Leiter der Gemeinden Bürgermeister. Adam Weinbach wurde mit großer Mehrheit im Amt bestätigt.

Doch zuvor, am 23. Oktober 1848 wurden die Gemeinderäte gewählt, was für viel Ärger sorgen sollte. Kriftel hatte damals eine Einwohnerzahl von 607, davon 110 Stimmberechtigte. Für jeweils 100 Einwohner wurde ein Gemeinderat gewählt, also insgesamt sechs Personen. Gewählt wurden: Michael Rollinger, Peter Stierstädter, Anton Sittig, Friedrich Wilhelm Barlow, Adam Lebkücher und Philipp Jakobi. War es wegen angeblicher Unregelmäßigkeiten schon während der Wahl zu Auseinandersetzungen gekommen, so mündete dies schließlich in einer schriftlichen Beschwerde mehrerer Bürger beim Amt in Höchst. Klagepunkte waren:

1. Der gewählte Friedrich Wilhelm Barlow hätte kein Bürgerrecht in Kriftel und hätte somit weder zur Wahl gehen noch gewählt werden dürfen.
2. Mehrere Söhne hätten für ihre Väter Stimmzettel abgegeben, was unzulässig sei.
3. Mindestens ein Fremder hätte mitgewählt.
4. Die Stimmzettel, die in eine Schüssel gelegt worden waren, seien nicht gezählt worden. Wahrscheinlich wären mehr Zettel abgegeben worden als es Wahlberechtigte gab.

Und sie waren - Kriftel 004

Auszählungsliste der Bürgermeisterwahl vom 1. Januar 1849. Von den 90 Bürgern, die zur Wahl gingen, erhielt Adam Weinbach 75 Stimmen.
Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 228/115


Schultheiß Weinbach gab in seinem Antwortschreiben unumwunden zu, daß bei der Wahl nicht alles korrekt zugegangen sei. Allerdings würde der russische Hofschauspieler Barlow, den es nach Kriftel verschlagen hatte, in Kürze sowieso das Bürgerrecht erhalten. Auch sei es nicht schlimm, wenn einige Söhne für ihre Eltern die Stimmzettel abgegeben hätten. Diese würden auch sonst oft vertretungsweise handeln. Weiterhin gab er zu, daß ein Fremder mitgewählt habe. Aber dies könne hingenommen werden, da es nichts an dem Wahlergebnis ändern würde.

Das Amt in Höchst informierte die Herzogliche Landesregierung über diese Vorgänge und stellte anheim, die Wahl nach § 10 des neuen Gemeindegesetzes für ungültig zu erklären. Die Antwort fiel überraschend aus. Die Landesregierung verwies darauf, daß solche Entscheidungen alleine in der Kompetenz des Amtes liegen würden. So mußte am 1. Februar 1849 die Wahl wiederholt werden. Gewählt wurden die gleichen Personen wie zuvor. Friedrich Wilhelm Barlow mußte also inzwischen das Bürgerrecht erhalten haben. Ein Jahr später wurde erneut zur Wahl gerufen, da der Gemeinderat Philipp Jakobi nach Amerika ausgewandert war.

Der Taunusdemokratenverein

Im Januar 1849 wurde der Taunusdemokratenverein gegründet, der aus vier Ortsverbänden bestand. Kriftel war der Sitz des Vereins und Bürgermeister Weinbach und sämtliche Gemeindevertreter waren Mitglieder. Wahrscheinlich war Weinbach auch Vereinsvorsitzender. Am 11. Februar 1849 brachte die „Freie Zeitung" einen Bericht über den Verein:

„Auch in der hiesigen Gegend wurde der Wunsch laut, ein festeres Band um alle Männer des Fortschritts in der Freiheit zu schlingen. Auf Anregung einiger Demokraten bildete sich im Januar ein Hauptverein, mit dem einstweiligen Vororte Kriftel. Dieser besteht aus den einzelnen Vereinen zu Hofheim, Kriftel, Marxheim und Hattersheim und hält monatlich seine Sitzungen, während sich die einzelnen Vereine jede Woche wenigstens einmal versammeln."

Im Anschluß wurde eine Rede des Vereinsvorsitzenden abgedruckt:
„Bürger! Die Demokratie, oder deutlicher gesagt, die Volksherrschaft ist gewiß eines jeden biederen Deutschen einziger Wunsch und Ziel. Wenn nämlich die Demokratie richtig aufgefaßt wird, denn es kann keine heiligere und für das Volk bindendere Verfassung geben als die es sich selbst gibt, die nicht geschenkt oder von Vormündern aufgezwungen, seine heiligsten Interessen wahrt, als die reine Demokratie. Demokraten hatten wir schon seit vielen Jahren, aber ihr Prinzip konnte nimmer zur Anerkennung kommen, weil die Feinde der Demokratie in Sonderinteressen jedem Wunsche des Volkes entgegen gearbeitet haben. Die Feinde, welche der Demokratie so schroff gegenüber stehen, sind vor allem die Aristokraten und die Juste-Milieu-Creaturen (Name der gemäßigt liberalen Partei in Frankreich). Die Aristokraten, welche seit Jahrhunderten durch Geburt unumschränkte Vorrechte besaßen und durch Stellung, Reichtum usw. sich Privilegien erwarben oder mit Gewalt bemächtigten, um das Volk als Spielwerk zu gebrauchen, müssen natürlich in jedem Demokraten ein Gespenst erblicken. Die Juste-Milieu-Creaturen sind eine noch schlimmere Sekte, weil sie allen Parteien angehören wollen und deswegen keiner angehören können. Ihr schmutziges Sonderinteresse leitet sie dahin, wo sie ihren Vorteil am meisten gewahrt sehen, ohne sich um das Wohl ihrer Mitbürger im Mindesten zu kümmern. Darum Bürger! Seid aufmerksam und wendet euer Augenmerk besonders auf alle die, welche mit großen, mit allen Farben geschmückten Aushängeschildern im Volke herumwandern und immer das beloben, was in ihrer Gegenwart verhandelt wird. Haltet fest an euren Grundsätzen, seid einig und dadurch stark, damit die Errungenschaften des vorigen Märzes durch oben genannte Feinde euch nicht entwunden werden."

In nur drei Monaten steigerte sich die Mitgliederzahl des Vereins von 50 auf mehr als 300 Personen. Am 13. Februar fand die offizielle Gründungsveranstaltung in einem Wirtshaussaal in Kriftel statt. Mehr als 600 Gäste strömten nach Kriftel, so daß der nur 400 Personen fassende Saal völlig überfüllt war und viele unverrichteter Dinge gehen mußten. Aufgrund einer anonymen Anzeige war die Versammlung ins Blickfeld der Behörden geraten. Die „Freie Zeitung" schrieb hierüber am 21. Februar:

Und sie waren - Kriftel 005

Das Krifteler Zehnthaus
Ab 1814 war es Schul- und Rathaus. Hierin fanden die Wahlen in der Revolutionszeit statt.
Foto: Elisabeth Häuser, Hofheim

„Es ist nur zu bedauern, daß die Regierung einer so ganz grundlosen Anzeige so große Aufmerksamkeit schenkte, besonders wenn sich bestätigen sollte, was von vielen Leuten mit großer Gewißheit behauptet wird, daß nämlich eine bedeutende Militärabteilung, bestehend aus Infanterie, Kavallerie und Artillerie bereits auf dem Marsch nach dem kleinen Kriftel war, um dasselbe auch einmal das Glück eines Belagerungszustandes fühlen zu lassen. Dem Herrn Amtmann Dilthey, der sich bei dieser Angelegenheit mit der größten Liebenswürdigkeit benahm und bewies, daß er ein Mann ist, der die Rechte des Volkes zu achten und zu schätzen weiß, soll es zu verdanken sein, daß die Reichstruppen, die die Stadt Höchst schon passiert hatten, sich auf den Rückmarsch begaben. Sie hätten hier auch keine andere Arbeit gefunden, als mit den friedlichen Kriftelern und ihren gleichgesinnten Gästen aus der Nachbarschaft ein paar Schoppen Apfelwein zu trinken und den Redeübungen des Vereins beizuwohnen."

Die Nassauische Allgemeine Zeitung, die stets die Meinung der Regierung vertrat, schrieb ebenfalls über die Versammlung, aber ohne Erwähnung der Anzeige oder gar einer Militäraktion. Statt dessen regte sich dieses Blatt über einen aus Mainz angereisten Redner auf, der folgendes gesagt hätte: „Neulich hat ein Bauer sämtliche Bäume auf seinem Acker niedergehauen. Der Acker ist Deutschland, die Bäume die Fürsten. Ich finde das Verfahren des Bauern lobenswert/'

Die konservative Partei übernimmt die Macht in Kriftel

Bei der Bürgermeisterwahl im Oktober 1854 erhielt Peter Kilp die meisten Stimmen. Er gehörte den konservativen Kräften an, die ständig den Angriffen der Demokraten und vor allem des Bürgermeisters Weinbach ausgesetzt waren. Durch den Wahlausgang verschlimmerten sich die Zustände und Kriftel war in zwei verfeindete Lager gespalten. Der Krifteler Kaplan Johann Diefenbach bemerkte hierzu:
Und sie waren - Kriftel 007


Mühle des Adam Weinbach, Skizze um etwa 1830
Quelle: Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 228/60


„In hiesiger Gemeinde bestehen zwei Parteien, die sich um die Regierung der Gemeinde streiten. Die eine, welche die radikale zu nennen, hatte sich anno 1848 ans Ruder geschwungen und terrorisierte die, welche nicht ihrer Gesinnung waren. An ihrer Spitze stand und steht der mehrere hunderttausend Gulden reiche Müller Adam Weinbach von hier. Seine Anhänger meist aus der unteren dritten Klasse sind zumeist solche, die in Abhängigkeit zu ihm stehen, also Schuldner oder die Arbeit und Verding bei ihm gefunden haben. Im Jahre 1854 gelang es der entgegengesetzten Partei, Männern aus der ersten und zweiten Klasse vereint, den Bürgermeister Kilp ans Ruder zu bringen, einen rechtschaffenen und religiösen Mann. Allein die unterlegene Partei, vor allem Herr Weinbach, ist sein erklärter Gegner und versucht ihn auf jede Weise um seinen Dienst zu bringen."

Adam Weinbach, geboren 1819 in Erbach/Rheingau, kam aus wohlhabendem Hause. Sein Vater, Andreas Weinbach, war Kaufmann und Oberschultheiß. Im Jahre 1844 heiratete er Maria Elisabetha Zimmermann, die acht Jahre zuvor die Krifteler Mühle von ihrem verstorbenen Vater geerbt hatte. Über die Nassauische Fortschrittspartei erhielt er 1861 bis 1865 ein Mandat im Landesparlament. Von 1867 bis 1870 war er Mitglied der Handelskammer in Wiesbaden. Im Juli 1870 wurden seine fünf Kinder infolge Erbschaft zu gleichen Teilen neue Eigentümer der Krifteler Mühle. Adam Weinbach ist nicht im Krifteler Sterberegister verzeichnet. Seine Ehefrau Maria Elisabetha war bereits 1869 gestorben.

Antrag auf Amtsenthebung des Bürgermeisters Kilp

Am 9. Oktober 1858 schrieb der zur Weinbach'schen Partei gehörende Andreas Wagner einen Beschwerdebrief über die Dienstführung des Bürgermeisters Kilp an das Amt in Höchst und verlangte dessen Amtsenthebung. Der Krifteler Pfarrer Peter Mohr war gestorben und die Pfarrei wurde vorübergehend von Kaplan Diefenbach betreut. Dies nahm Adam Weinbach zum Anlaß, eine Petition an das Ordinariat in Limburg zu verfassen, worin gefordert wurde, daß der künftige Pfarrer ein wesentlich geringeres Gehalt als sein Vorgänger beziehen solle. Der eingesparte Betrag könne für den beabsichtigten Neubau der Kirche verwandt werden. Die Petition wurde Bürgermeister Kilp übergeben, der sie den Gemeinderäten vorlesen und von diesen unterschrieben weiterleiten sollte, was auch zwei Wochen später geschah. Später stellte sich heraus, daß der Bürgermeister den Text verändert hatte, so daß jetzt eine Gehaltsschmälerung nur für die Zeit der Vertretung verlangt wurde. Auch Andreas Wagner hatte die Petition unterschrieben, ohne beim Vorlesen des Textes diese Veränderung zu bemerken. Dies sah er als Betrug an. Weitere Punkte der Anklage waren:

1. Bei einer Güterversteigerung wäre ein falsches Versteigerungsprotokoll geführt worden, was eine strafbare Handlung sei und Kosten und Prozesse nach sich ziehen würde.

2. Bei Abwesenheit des Bürgermeisters habe dessen Tochter Viehprotokolle beurkundet, wozu sie nicht berechtigt gewesen sei.

3. Schließlich sei Bürgermeister Kilp vor seiner Amtszeit ein Holzdieb gewesen. Nachts hätte er im Wald Holzstämme gestohlen und in seine Scheuer gebracht. Das Holz hätte er dann in seiner Wagnerei verarbeitet. Jeder in Kriftel wüßte davon und sein Ansehen wäre tief gesunken.
 

Das Antwortschreiben des Bürgermeisters ließ nicht lange auf sich warten. Insgesamt konnte er die Anschuldigungen widerlegen, bzw. die Vorgänge logisch erklären, so daß alles in einem anderen Licht erschien. Nachfolgend der letzte Teil seines Schreibens:

„Ich werde nun Herzoglichem Amte Aufschluß geben über die Beweggründe, die der A. Wagner zu den Klagen bestimmt haben. Es sind nicht Eifer fürs Gemeindewohl, auch nicht die Überzeugung von meiner Untauglichkeit und Unwirksamkeit, sondern es ist bloß der Ausfluß von Parteisucht, Leidenschaft und alter Groll. Als bei der letzten Neuwahl der Bürgermeister Weinbach abtreten mußte, geschah dieses mit dem Erwarten, daß sein Schreiber und Gesinnungsgenosse H. Flick sein Nachfolger werden würde.

Alleine der bessere und größere Teil unserer Gemeinde war der 1848er Männer und ihres demokratischen Treibens müde und wählte meine Person, gegen Erwarten und zum Ärger der Weinbach'schen Partei. Von da ab bin ich immerfort ihren Angriffen, Plackereien und Anfeindungen sowie ihren Verleumdungen ausgesetzt, und sie erstreben nichts mehr, als mich vom Dienst zu bringen und meinen Gegenkandidat Flick durchzusetzen. Gerade jetzt scheint ihnen die Zeit günstig zu sein, Flick und Wagner sind beide Gemeinderäte und Weinbach versucht, mit seinem Reichtum auf die Wähler Einfluß zu nehmen, so daß eine Neuwahl günstig für sie scheinen mag. Deshalb dieser Eifer und diese Sucht des A. Wagner, der nur als Werkzeug einer schlechten Sache dienen muß, wozu andere den Namen nicht hergeben wollen, um mich bei meiner Behörde zu verdächtigen und womöglich meine Absetzung zu erwirken. Ich aber verlasse mich auf meine gerechte Sache, indem ich alsbald einen Ehrenkränkungs- und Verleumdungsprozeß gegen A. Wagner einleiten werde, um ihn zur gebührenden Strafe zu ziehen, die er lange verdient hat und die das einzig geeignete Mittel ist, den rastlosen und fortwährenden Umtrieben und Agieren der 1848er Partei einigermaßen ein Ende zu machen."

Doch so einfach ließen sich die Anschuldigungen des Gemeinderates Wagner nicht aus der Welt schaffen. Zunächst veranlaßte das Herzoglich Nassauische Hof- und Appellationsgericht in Wiesbaden eine Untersuchung, um zu ermitteln, ob ein Dienstverbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches vorlag. Als dies abschlägig beschieden wurde, war die Angelegenheit jedoch immer noch nicht erledigt. Danach prüfte das Amt in Höchst, ob ein Disziplinarverfahren eingeleitet werden müsse. Auch diese Untersuchung ergab keine Schuld des Bürgermeisters.

Wenige Monate später wurde Peter Kilp von Andreas Wagner erneut angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, daß er die Aufrichtung eines Fronleichnamaltares, welchen ein Schreiner aufgebaut hatte, zu Lasten der Gemeindekasse bezahlt hätte. Es ging um einen geringen Betrag von 48 Kreuzer. Auch wegen dieser Anklage wurde der Bürgermeister freigesprochen.

Streit mit der Kirche

Von 1858 bis 1860 wurde die Pfarrei Kriftel durch Kaplan Johann Diefenbach verwaltet. Im Mai 1859 beschwerte sich Adam Weinbach beim Ordinariat in Limburg über dessen Amtsführung. Außerdem hätte sich der Kaplan in politische Angelegenheiten eingemischt. Der Hintergrund war, daß der Kaplan keinen Hehl daraus gemacht hatte, daß er gesinnungsmäßig auf Seiten des Bürgermeisters Kilp stand. Anfang 1859 war es Weinbach gelungen, Gemeinderat und Feldgericht mit Leuten seiner Partei zu besetzen. Danach witterte er erneut die Chance, den Bürgermeister abzulösen. Er bat den Kaplan um Unterstützung mit der Begründung, Kilp könne jetzt sowieso nichts mehr bewirken. Der Kaplan antwortete ohne Umschweife, daß er den Bürgermeister Kilp wegen seiner guten Dienstführung und seiner Religiosität sehr schätze und er deswegen seinen Abgang sehr bedauern würde. Zudem würde sich sein Gegenkandidat durch Unglauben und Irreligiosität auszeichnen. Zwar sei aufgrund der geänderten Machtverhältnisse die Situation für den Bürgermeister sehr schwierig geworden, trotzdem habe er ihm von einem Amtsverzicht abgeraten.

Nach diesem offenen Gespräch war die Situation natürlich sehr angespannt und Weinbach versuchte, den Kaplan beim Ordinariat anzuschwärzen. Er verfaßte einen entsprechenden Beschwerdebrief. Dieser wurde im ganzen Ort herumgereicht und man versuchte, möglichst viele Einwohner zur Unterschrift zu bewegen. Dem Kaplan wurde vorgehalten, eine Haushälterin zu beschäftigen, obwohl diese Aufgabe billiger von seiner eigenen Schwester erledigt werden könne. Der Kaplan entgegnete, daß seine Schwester fast noch ein Kind und folglich nicht imstande sei, einen Haushalt zu führen. Weiterhin verlangte Weinbach für den Gemeinderat besondere Plätze in der Kirche, welche schon immer dem Kirchenvorstand vorbehalten gewesen waren. In dem Brief enthalten waren auch Anschuldigungen gegen den Kirchenvorsteher Nix. In einem Antwortschreiben an das Ordinariat rechtfertigte Kaplan Diefenbach sein Verhalten:

„Sollte hochwürdiges Ordinariat mein Verhalten ungerecht finden, so brauche ich nur Herrn Kilp meine Lage zur Kenntnis zu bringen und er wird, so wie ich ihn kenne, die Abdankung vollziehen. Dann werden allerdings seine Gegner befriedigt und ruhig sein. Was aber dem Ortsgeistlichen dann für eine Stellung erwächst, das wage ich nicht vorherzubestimmen. Ich bin bereit, so es Hochdenselben gefällt, Kriftel zu verlassen, obschon ich in materieller Hinsicht Einbußen erleiden müßte, indem mein noch nicht ganz bezahlter Hausrat gegen Schaden wieder verkauft werden müßte."

Ende des Parteiengezänks

Mit dem Jahre 1860 enden die Streitschriften. Ein Grund könnte sein, daß Adam Weinbach ab 1861 Abgeordneter im Nassauischen Parlament in Wiesbaden wurde und sich danach nicht mehr um die örtliche Parteipolitik kümmerte.

Bemerkung: wörtlich wiedergegebene Texte wurden teilweise gekürzt bzw. so aufbereitet, daß sie besser verständlich sind und unserer heutigen Rechtschreibung entsprechen.

Quellen/Literatur

  • Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: Abt. 228/60, 115,116,118,120,169, 511; Abt. 210/3550, Mikrofilme Zeitungen
  • Diözesanarchiv Limburg: K 18 10/3
  • Archiv der Kath. Kirchengemeinde Kriftel: Kirchenbücher
  • Heimatkundliche Sammlung Kriftel: Verordnungsblätter des Herzogthums Nassau, 1848 und 1849
  • Schüler, Winfried, Die Revolution von 1848/49, in: Herzogtum Nassau 1806-1866. Eine Ausstellung des Landes Hessen und der Landeshauptstadt Wiesbaden, 1981 (S.19-35)
  • Ders., Das Herzogtum Nassau 1806-1866, Deutsche Geschichte im Kleinformat, veröffentlicht durch Historische Kommission für Nassau, Wiesbaden 2006 (S. 163-223)
  • Rösner, Cornelia, Nassauische Parlamentarier. Ein biographisches Handbuch, veröffentlicht durch Historische Kommission für Nassau, Wiesbaden 1997 (VII-XXVI u. S. 186)
  • Wettengel, Michael, Die Revolution von 1848/49 im Rhein-Main-Raum. Politische Vereine und Revolutionsalltag im Großherzogtum Hessen, Herzogtum Nassau und in der Freien Stadt Frankfurt, Wiesbaden 1989
  • Schütz/Sachs, Der Zeitungssänger Philipp Keim (1804-1884) aus Diedenbergen, Wiesbaden-Erbenheim, 1993 (S. 80-82)
  • Koch, Rainer, Kriftel, eine Chronik, 1980 (S. 71 u. 72)

Aus:
MTK-Jahrbuch 2010
MTK-Jahrbuch 2010 002