Kriegszeiten sind Notzeiten - Kriftel im 1. Weltkrieg
WILFRIED KREMENTZ

Vor 90 Jahren tobte der Erste Weltkrieg (1914 -1918). Wer jemals die Schlachtfelder und Gedenkstätten in Verdun besuchte, kann erahnen, wie furchtbar dieser Krieg gewesen sein muß.

Aber nicht nur an der Front, sondern auch in der Heimat mußten die Menschen vieles ertragen und Entbehrungen erdulden. Die knappen Lebensmittelzuteilungen und Teuerungen führten dazu, daß viele Leute in Not gerieten und nicht wußten, wovon sie leben sollten.

In Kriftel war während des Krieges Josef Reichwein Hauptlehrer (Rektor) gewesen. In der Schulchronik beschrieb er die Auswirkungen des Krieges auf die Zivilbevölkerung, wie er sie persönlich erlebt hatte. Dieser Beitrag ist vor allem seinen Aufzeichnungen zu verdanken.

Ausbruch des Krieges

Schon lange hatte man mit dem Ausbruch eines Krieges gerechnet. Im August 1892 schlossen Frankreich und Rußland ein Militärbündnis, dem sich später England anschloß. Das Deutsche Reich im Verbund mit Österreich-Ungarn hatte somit im Ernstfall einen Zweifrontenkrieg zu erwarten. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 war der endgültige Anlaß zum Ausbruch des Krieges. Mit der russischen Generalmobilmachung am 31. Juli 1914 fielen in Berlin die Würfel für eine militärische Lösung. Am Samstag, dem 1. August, um 6.00 Uhr abends befahl Kaiser Wilhelm die Mobilmachung.
Mobilmachung 1914

Mobilmachung
(Kreis-Blatt, Kreiszeitung und Kreisanzeiger für den Kreis Höchst a.M.),
1. August 1914)

 

Reichwein schrieb über den Kriegsausbruch:
„Die Ortschaften verkünden es, die Anschlagtafeln machen es bekannt und die Sturmglocken verkünden es. Was man lang befürchtete, aber immer noch nicht geglaubt hatte, es war Wahrheit geworden. Die ganze Alte Welt steht kampfbereit gegeneinander. Das erste Gefühl war ein lähmender Schock; es war, als sollte die Welt untergehen."

Zunächst sah alles nach einem schnellen Erfolg aus. Bereits am 12. August trafen die ersten französischen Kriegsgefangenen in Mainz ein. Aber die Freude über die militärischen Anfangserfolge begann schnell zu schwinden. Am 1. September erreichte der erste größere Verwundetentransport deutscher Soldaten die Stadt Höchst. Die meisten Verwundeten konnten ins Städtische Krankenhaus eingeliefert werden; für einige mußten jedoch ersatzweise Betten im Evangelischen Vereinsheim aufgestellt werden.
Kriegszeiten: das Brot wird teurer.

Erhöhung des Brotpreises (Kreis Blatt..., 23. September 1914)

Mit Einbruch der kalten Jahreszeit wurden für die Soldaten warme Unterwäsche und Kleidungsstücke gesammelt. Die Opferbereitschaft zu Weihnachten war so groß, daß mit den Geschenken siebzig Zugwaggons gefüllt werden konnten, die von Frankfurt aus an die Fronten transportiert wurden. Um den Soldaten zu zeigen, daß es sich um Liebesgaben handelte, war jeder Waggon weiß angestrichen worden, und darauf hatte man einen großen dunkelgrünen Tannenbaum mit leuchtenden Kerzen aufgemalt.

 

Der Chronist schrieb über die erste Kriegsweihnacht:
„Wir feiern Weihnachten diesmal anders als sonst. Der Ernst des Krieges drückt auch diesem Fest seinen Stempel auf. Es will die Freude nicht aufkommen angesichts der Trennung und der Sorge, die der Krieg über uns verhängt. Und wie wird es erst dem zumute sein, der einen Sohn beweint. Es ist hart, einen Teuren fern von uns gestorben und begraben zu wissen. Der Ernst der Zeit, die Not, die Trennung, die Gefahr, die der Krieg über uns verhängt, das alles wirkt dahin, daß Weihnachten diesmal stiller und ernster als sonst begangen wird. An diesem Fest der Liebe werden sich diesmal besonders die Herzen und Hände öffnen, um den Bedrängten beizustehen. Der Gegenstand unserer besonderen Fürsorge und Opferwilligkeit sind unsere Soldaten."

Versorgungsprobleme und Teuerung

Ab 8. März 1915 wurden Brotkarten eingeführt. Jede Person konnte wöchentlich ein Brot von 1.750 Gramm erwerben. Die Brotkarten hatten verschiedene Farben und galten nur in der hierzu bestimmten Woche. Um Mehl einzusparen, mußten die Bäcker 20 % Kartoffelmehl beimischen, weshalb es das Kriegsbrot genannt wurde. Reichwein erwähnte, daß ihm dieses schwarz aussehende Brot lange Zeit gar nicht geschmeckt hätte, aber irgendwann habe auch er sich daran gewöhnt. Das Backen von Kuchen wurde völlig verboten.

Bereits zu Beginn des Krieges war die Bevölkerung aufgefordert worden, keine Vorratskäufe zu tätigen. Wer sich daran hielt, war der Benachteiligte. Gab es anfangs noch Importartikel, wie Reis, Kaffee und Gewürze zu kaufen, so hörte dies bald auf. Deutschland war von jeglicher Zufuhr abgeschnitten und mußte von dem leben, was die eigene Landwirtschaft erwirtschaftete. Priorität bei der Versorgung genoß das Militär. Bei der Versorgung mit Materialien, die vom Heer besonders benötigt wurden, wie Leder, Wolle und Metall, kam es bei der Zivilbevölkerung bald zu Engpässen. In Folge der Verknappung stiegen die Preise, so daß viele Familien in Not gerieten. So kostete ein Zentner Kartoffeln vor dem Krieg drei Mark, im Herbst 1914 bereits fünf Mark und im Frühjahr 1915 den für damalige Verhältnisse ungeheuren Preis von zwölf bis dreizehn Mark. „Nahrungsmittel, die jeder haben muß, um überleben zu können und die hier auch ausreichend produziert werden, dürfen aus Profitgier nicht so in die Höhe getrieben werden, daß manche Familie in wirkliche Not gerät. In Familien, wo der Ernährer im Felde steht, wo Hausmiete oder Zinsen zu zahlen sind, da ist Fleisch, Wurst, Eier und Butter nur noch selten auf dem Tisch zu sehen. Das sind die häßlichen Begleiterscheinungen des an sich schon häßlichen und furchtbaren Krieges."

Um die Not zu lindern, wurden die Getreide- und Mehlzuteilungen den Kommunalverbänden übertragen. Außerdem mußten die Kommunen Vorratskäufe tätigen, um gegebenenfalls preisregulierend einwirken zu können. Gleichzeitig wurden für Lebensmittel Höchstpreise festgesetzt. Im Jahre 1916 waren bereits alle wichtigen Nahrungsmittel zwangsbewirtschaftet. Trotz aller Bemühungen der Regierung kam es immer wieder vor, daß manche Bauern und Geschäftsleute die Not zu ihrem persönlichen Vorteil auszunutzen versuchten. Hierzu folgendes Beispiel: Im Frühjahr 1915 wurden amtlicherseits die noch aus der Vorjahresernte verbliebenen Kartoffelvorräte erfaßt, um eine gerechte Verteilung zu ermöglichen. Einige Landwirte hatten jedoch zuvor Teile Ihrer Restbestände vergraben. Eine andere Möglichkeit der Unterschlagung bot eine Verfügung, wonach zwar für Speisekartoffeln eine preisliche Obergrenze festgesetzt worden war, nicht jedoch für Saatkartoffeln. Doch wer konnte schon kontrollieren, ob einige Säcke mehr oder weniger als Saatkartoffeln deklariert wurden. Jedenfalls bot sich die Möglichkeit, die nicht erfaßten Kartoffeln zu wesentlich höheren Preisen verkaufen zu können, als dies durch die Preisverordnung erlaubt war. Auch gegen Geschäftsleute wurden Vorwürfe erhoben. Unter dem Vorwand, dieser oder jener Artikel sei schwer erhältlich, wurden die Preise immer weiter nach oben getrieben. Lehrer Reichwein schrieb, daß in der allgemeinen Notsituation auch einige Krifteler Bauern und Geschäftsleute ihren Nutzen daraus zu ziehen gewußt hätten.
Denkt an das Vaterland!

Anzeige im Kreis Blatt..., 13. Februar 1915

Sorge um eine gute Ernte

Ein Aufatmen ging durch das Land. Die Ernte 1915 versprach hervorragend zu werden. Im Sommer Sonnenschein, dazwischen immer rechtzeitig Regen, kurzum zur Bewältigung der zu erwartenden reichen Ernte mußte die gute Witterung ausgenutzt werden. Da viele Männer zum Militärdienst eingezogen worden waren, standen nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung. Die Gemeinde Kriftel forderte daher Hilfe an und erhielt zwanzig irische Kriegsgefangene aus dem Lager in Limburg zugewiesen. Doch schon bald zeigte sich, daß die Iren zwar guten Willens waren, aber von Landwirtschaft gar nichts verstanden. Deshalb wurde auf Antrag der hiesigen Landwirte der Trupp noch vor der Kartoffelernte nach Limburg zurückgebracht. Danach kamen aus dem Lager in Wetzlar achtundzwanzig russische Kriegsgefangene, die im Gasthaus „Zur Eisenbahn" untergebracht wurden. Die Russen erhielten von ihren Arbeitgebern freie Beköstigung und 30 Pfennig Lohn. Der Chronist vermeldete hierzu:

„Die Russen sind im ganzen fleißige Leute und bei den Arbeiten recht brauchbar, aber es fällt schwer, sich ihnen verständlich zu machen. Auch in ihrem ganzen Benehmen sind es eben Russen. Auf Reinlichkeit geben sie nicht viel. Nur ungern essen sie mit Eßbesteck am Tisch. Man merkt es eben überall, die Leute sind von der Kultur noch nicht berührt worden."

Die Ernte fiel erwartungsgemäß hervorragend aus. Vor allem gab es Kartoffeln in Hülle und Fülle, und die Krifteler Apfel- und Birnbäume lieferten eine Menge Obst. Aufgrund der großen Ernte sank der Preis für einen Zentner Kartoffeln auf sieben Mark, was allerdings immer noch das Zweieinhalbfache des Vorkriegspreises gewesen war.

 

Das Leben im Krieg

In der Kriegszeit gab es für die Zivilbevölkerung nur Arbeit und Sorgen. Der damals größte Arbeitgeber unserer Gegend, die Farbwerke Höchst, verlor durch Einziehung zum Militärdienst fast die Hälfte der Beschäftigten. Einige der Betriebsteile mußten stillgelegt werden. Auch in der Farbenfabrik Beyerbach in Kriftel wurde die Produktion mangels Rohstoffen eingestellt, was schließlich zum Niedergang des Unternehmens führte.

Je länger der Krieg dauerte, je stärker sich die englische Seeblockade bemerkbar machte, je mehr Menschen und Material in den Schlachten verschlissen wurden, desto intensiver mußten alle Energien der Kriegswirtschaft gewidmet werden. Mit dem Gesetz über den  „Vaterländischen Hilfsdienst" vom 5. Dezember 1916 sollten alle materiellen und menschlichen Kräfte der Heimat ausschließlich auf das Kriegsziel konzentriert werden. So übernahmen immer mehr Frauen die Tätigkeiten ihrer im Felde stehenden Männer, Brüder und Söhne. Auch Jugendliche, Invalide und Kriegsgefangene wurden eingesetzt, um den Arbeitskräftemangel zu beheben. Veranstaltungen, wie Kirchweih, Jahrmärkte oder Maskenbälle gab es nicht mehr. In den Wirtshäusern galten Beschränkungen. Aber das Allerschlimmste für die Leute war der Mangel an Lebensmitteln und die ständigen Teuerungen. Die „Frankfurter Zeitung" berichtete am 5. Dezember 1915 folgendes:

„Wer jetzt die Gespräche von Hausfrauen, und zwar aller Schichten, mit anhört, dem tönt immerfort das Wort Butter entgegen. Nicht vom Krieg und nicht vom Frieden, nur von der Butter reden sie.“

Trotz der im Herbst erzielten guten Ernte kam es im Frühjahr 1916 zunächst zu einer Kartoffelverknappung, dann fehlten Butter und schließlich Fleisch, Fett und Zucker. Stundenlang standen die Leute vor den Läden. Oft erhielten sie nichts, weil der Vorrat ausgegangen war. In dieser Notlage hoffte jeder auf eine gute Ernte. Reichwein schrieb im Sommer 1916:

„Mit banger Sorge sieht der Landwirt und mit ihm das ganze Deutsche Volk in diesen Tagen nach dem Himmel. Eine reiche Ernte steht auf unseren Feldern. Lange Regenperioden durchzogen den Sommer, so daß das Getreide nicht reifen konnte. Da endlich am 29. Juli klärte sich der Himmel auf. Heller Sonnenschein machte die wohlgefüllten Ähren bald schnittreif. Es wurde andauernd gearbeitet und es gelang, das Korn und den größten Teil des Weizens einzubringen. Da setzten am 14. August wieder Gewitter ein, die in Dauerregen übergingen. Gleich Bächen strömte der Regen hernieder. Dadurch ist der Weizen und Hafer auf dem Felde stark ausgewaschen worden. Möge uns der Himmel doch bald wieder gutes Wetter geben.“

Der Himmel hatte ein Einsehen und das Wetter besserte sich wieder. Im Großen und Ganzen fiel die Ernte in unserer Gegend recht gut aus. In Kriftel war die Kartoffelernte so gut, daß sie nicht nur zur eigenen Versorgung reichte, sondern zusätzlich 2.000 Zentner nach Zeilsheim und 6.000 Zentner nach Höchst abgeliefert werden konnten.

Trotz aller Notsituationen und Einschränkungen ist es erstaunlich, daß der Opferwille der Bevölkerung für die Soldaten ungebrochen erhalten blieb. Für den bevorstehenden Winter wurden große Mengen warmer Unterwäsche, Knie- und Pulswarmer, wollene Strumpfe und dergleichen gesammelt. Um den Soldaten eine besondere Freude zu bereiten, sammelten in Kriftel der Gesangverein, der Turnverein, der Männer- und Jünglingsverein und die Spar- und Darlehenskasse Zigarren und Zigaretten, die den Paketen beigegeben wurden.

Im Frühjahr 1916 waren in Kriftel Genesende des Infanterieregiments 87 einquartiert worden. Die Mannschaftsstarke wechselte jeweils zwischen 150 und maximal 300 Mann, die in Gaststätten und Privatquartieren untergebracht worden waren Als Verpflegung lieferte die Heeresverwaltung lediglich Brot. Die gesamte übrige Versorgung blieb Sache der Quartiergeber, die hierfür pro Mann und Tag eine Mark und fünf Pfennig erhielten.

 

Brot, Kartoffeln und Schweine

Inzwischen gab es Brot-, Fleisch-, Fett-, Butter-, Zucker- und Kleiderkarten:
„Die Not zwingt uns zum Haushalten, denn der Krieg dauert nicht nur fort, sondern mit Rumänien ist ein neuer Gegner dazu gekommen. Ja, ein Abenteuer ist leichter angefangen als durchgeführt. Für uns kostet die Fortsetzung des Krieges viele kostbare Menschenleben und große Summen Geld. Aber wenn das Vaterland in Not ist, muß man helfen.
Vaterländische Zigarettenwerbung.

Zeitgenössische Anzeige für “Salem Gold“ Zigaretten
(Kreis Blatt…, 28. Oktober 1915)

Der Winter 1916/17 war sehr kalt. Es wurden Temperaturen bis -20°C erreicht. In den Rheinhäfen lagen voll beladene Kohlenschiffe, die aber wegen Eis und Schnee nicht entladen werden konnten. Hinzu kam, daß die Eisenbahnen für den Transport von Heeresmitteln vollständig in Anspruch genommen waren. Dies führte dazu, daß es bald keine Kohlen mehr gab. Um Brennstoffe einzusparen, wurden vom 12. Februar bis 4. März 1917 die Schulen geschlossen, ebenso Theater und Vergnügungslokale.

Der Brotbedarf war einigermaßen gesichert und hielt sich durch staatliche Eingriffe preislich im Rahmen. Jeder Einwohner erhielt 1917 in der Woche auf Bezugsschein 2.000 Gramm Kriegsbrot. Drei Pfund Brot kosteten 58 Pfennige. Schwerarbeiter erhielten Zusatzkarten für l.000 g Brot und Jugendliche vom 12. – 17. Lebensjahr jeweils zusätzlich 500 Gramm in der Woche. Die Ernte 1916 war zwar in unserer Gegend gut ausgefallen, das traf aber nicht auf das ganze Reich zu. Statt des durchschnittlichen Ertrages von l Milliarde Zentner Kartoffeln waren nur etwa 400 Millionen Zentner geerntet worden. Es kam also bald zu einer Kartoffelknappheit, wobei berücksichtigt werden muß, daß Kartoffeln in der Kriegszeit das Hauptnahrungsmittel waren. Die Zuteilung wurde deshalb auf 3/4 Pfund pro Tag eingeschränkt. Kartoffeln waren aber auch für die Tierfütterung unerläßlich. Vor dem Krieg hatte man in Deutschland den großen Viehbestand nur dadurch aufrechterhalten können, indem jährlich riesige Mengen Futtermittel, insbesondere Mais, Kleie und Ölkuchen importiert worden waren. Nach Wegfall dieser Importe ging das Schlachtgewicht der Tiere zurück. Durch den gewaltigen Heeresbedarf an Fleisch wurden die Rationen in der Heimat immer knapper und teurer. Durch diese Entwicklung war die Regierung gezwungen, Höchstpreise für Schlachtvieh festzusetzen. Der Ankauf der Schlachttiere wurde dem Viehhändlerverband unter staatlicher Kontrolle übertragen. Alles Vieh unserer Gegend mußte ins Schlachthaus nach Höchst gebracht werden, und die Gemeinden erhielten dann entsprechende Zuteilungen. In Kriftel wurde geklagt, daß wegen Fehlens von ausreichendem Futter die Kühe weniger Milch geben und selbst die Hühner nur noch zaghaft Eier legen würden. Um die Fleischversorgung zu verbessern, wurden Hausschlachtungen empfohlen und begünstigt. Auf Karte erhielt jeder Einwohner pro Woche 125 - 150 Gramm Fleisch und 50 Gramm Speisefett. Dem Selbstversorger wurden 250 Gramm Fleisch pro Woche und das ganze Fett des geschlachteten Schweins überlassen. Reichwein schrieb hierzu folgendes:

„Der Erfolg der Selbstversorgungsmaßnahme war sehr groß. Leute, die ihr ganzes Leben noch kein Schwein gefüttert hatten, wollen nun ein Ferkel kaufen. Holzställe, Waschküchen, ja selbst Balkone wurden zu Schweineställen. Die ganz Klugen sicherten sich bei irgendeinem Bauer ein Schwein und überließen diesem die Fütterung. So entstand der Begriff des Pensionsschweins. Wenn das Schwein die nötige Rundung erlangt hatte, wurde es lebend gewogen und dann dem Schlachtmesser überliefert. Der Höchstpreis beträgt je nach Gewicht und Fett 78 - 95 Pfennig pro Pfund Lebendgewicht. Für Zuchtschweine wurde kein Höchstpreis festgesetzt. Wenn der Besitzer das Pensionsschwein bezahlen will, erlebt er gewöhnlich eine Überraschung. Harmlos, wie der Bauer nun einmal ist, erklärt er dem Besitzer, daß er ein Zuchtschwein großgezogen habe, aber kein Schlachtschwein. Und da kostet das Pfund 1,80 Mark oder 2,00 Mark. Da beide, Käufer und Verkäufer, nach der Satzung der Regierung nicht ganz einwandfrei gehandelt hatten, so schwiegen beide, der eine seufzend, der andere stillvergnügt."

Geldwirtschaft und Kriegsanleihen

Nur wenige Tage nach Kriegsbeginn war der Goldmark durch den Reichstag ein Ende bereitet worden. Münz- und Bankgesetz wurden dahin geändert, daß die Pflicht der Reichsbank aufgehoben wurde, ihre Noten gegen Goldmünzen einzulösen. Von der Reichsbank wurden Darlehenskassen gegründet, die „ungedecktes" Papiergeld ausgaben. Bald schon gab es die ersten örtlichen Notgeldausgaben. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, die noch im Privatbesitz befindlichen Goldmünzen zum Nennwert gegen Papiergeld an die Reichsbank abzugeben. Zusätzlich gab es Eisenmedaillen etwa mit der Inschrift:
 


          „Gold gab ich zur Wehr,
          Eisen nahm ich zur Ehr.
          In eiserner Zeit – 1916“

Da die Steuermittel zur Deckung der Kriegskosten nicht ausreichten, wurde die Bevölkerung zur Zeichnung von Kriegsanleihen aufgefordert Selbst die Schulen sollten hierzu ihren Beitrag leisten Zur Unterstützung der sechsten Kriegsanleihe veranstalteten die Krifteler Schüler drei Unterhaltungsabende. Jeder Abend gliederte sich in zwei Teile, zunächst in einen unterhaltenden mit Gedichten, Liedern und kleinen Theaterstücken. Danach wurden Lichtbilder gezeigt, worin die Wirtschafts- und Finanzkraft des Reiches vor Augen geführt und dann zur Zeichnung der Kriegsanleihe aufgefordert wurde. Stolz ist vermerkt, daß die Werbung der Schüler ein Zeichnungsvolumen von 15.600 Mark erbracht hatte. Im gesamten Reich wurden bei der sechsten Anleihe 13 Milliarden Mark erzielt. Für das Jahr 1917 vermeldet die Chronik:

„ Wir stehen vor der siebten Kriegsanleihe. Das Geld wird wohl wieder zusammengebracht. Wie aber die Schulden später getilgt werden sollen, und was uns nach dem Kriege auferlegt werden muß, daran wagt man kaum zu denken.“
Kriegszeiten - vaterländische Zeiten.

Aufruf zur Zeichnung von Kriegsanleihen (Kreis-Blatt..., 22. September 1916)

Noch kurz vor Kriegsende wurde die neunte Kriegsanleihe aufgelegt. Nach dem Krieg hatten sich viele Familien ruiniert, denn die Anleihen waren wertlos.
Kriftel vor 90 Jahren

Ansichtskarte von Kriftel, geschrieben an einen Frontsoldaten des Jäger Btl. 8 (Sammlung Heimatmuseum Kriftel)

 

Die Hilfsdienstpflicht

Im Dezember 1916 hatte der Reichstag das Hilfsdienstgesetz verabschiedet.  Durch dieses Gesetz waren alle Personen bis zum 60. Lebensjahr zur Arbeit verpflichtet. Den Farbwerken Höchst wurden viele Fremde als Arbeitskräfte zugewiesen und in den umliegenden Orten in Sammelquartieren untergebracht. In Kriftel wurden dem Gastwirt Nix (frühere Gaststätte „Zur Eisenbahn") 100 Personen zugewiesen, dem Gastwirt Hahn („Zum Engel") 80, dem Wirt Hauck („Zum grünen Wald") 70 und dem Wirt Schnappenberger („Zur Krone") 50 Personen.

Aber nicht nur die Erwachsenen mußten Hilfsdienste leisten, sondern auch die Schüler. Die Krifteler Schulkinder sammelten eingemachtes Obst und Gemüse für Lazarette und Geld für deutsche Kriegsgefangene, welches dem Roten Kreuz übergeben wurde. Die Mädchen fertigten Kleidungsstücke für die Soldaten im Osten. Im Jahre 1916 sammelten die Kinder etwa 84 kg Bucheckern zur Ölgewinnung und als Kaffeeersatz brachten sie 24 kg Brombeerblätter zusammen. Gleichzeitig galt eine strenge Schulzucht, und nach dem Läuten der Abendglocke durfte es kein Schüler wagen, auf der Straße angetroffen zu werden. Als es im Frühjahr 1917 zu Hungersnöten kam, wurde unter Anleitung der Lehrer Löwenzahn, Geißfuß, Wegerich und Huflattich gesammelt, die mancher Familie aus der Not geholfen haben sollen.

Außerdem wurden Schülerkolonnen gebildet, die bei der Ernte helfen mußten. Anfangs wollten die Krifteler Landwirte von dieser Hilfe nichts wissen, da sie fürchteten, die Schüler könnten mehr Schaden anrichten als nützen. Doch sollte sich diese Meinung bald ins Gegenteil verkehren. Im Sommer 1917 fielen Tausende von Schmetterlingen, der Kohlweißling, über die Gemüsefelder her. Die Krifteler Kinder sammelten die Schädlinge und erhielten dafür von der Gemeinde 85 Pfennige für jeweils 100 Stück bezahlt. Schließlich gelang die Vertilgung der Schädlinge und die Ernte war gerettet. Im Frühjahr halfen die Kinder bei der Erdbeerernte. Schon damals waren die Erdbeeren für die Krifteler Bauern ein einträgliches Geschäft. Über die Kartoffelernte des Jahres 1917 steht in der Chronik:

„Sehr gefragt sind die Kinder bei der Kartoffelernte. Man findet kein Kind mehr auf der Straße. Alle sind auf dem Feld. In diesem Jahr gestaltet sich die Arbeit aber auch zur Lust, schönes Wetter und prachtvolle Kartoffeln in Hülle und Fülle. Das ist aber auch ein Glück, denn die Brotfrucht hat durch den strengen Winter sehr gelitten und die Brotrationen werden sicherlich gekürzt werden müssen. Die Beschäftigung der Kinder wird bis November andauern müssen. Das bei all diesen Arbeiten der Schulunterricht sehr gelitten hat, liegt auf der Hand.“

Von Schülern und Erwachsenen wurde alles gesammelt, was für die Heimat und das Heer von Nutzen sein konnte. Gesammelt wurden Altpapier, altes Eisen, Bleche, Glasscherben, Lumpen, Knochen, Stanniol und Gummi. Alle diese Dinge wurden in der Zentralsammelstelle in Höchst abgeliefert. Zur Verbesserung des Ölnotstandes wurden Pflaumen-, Kirsch-, Aprikosen- und Kürbiskerne gesammelt. Nach Angabe der Reichsstelle für Öl und Fett konnte so 1917 zusätzlich eine Menge von 110.895 kg Öl gewonnen werden. Zur Verbesserung der Bekleidungsverhältnisse wurden Nesseln abgeschnitten und getrocknet. Laut amtlicher Angabe wurde in Deutschland 1917 insgesamt 170.692 kg getrocknete und gepreßte Nesseln abgeliefert. Das Heer benötigte ständig eine ungeheure Menge Pferdefutter. Da nicht genügend Heu geliefert werden konnte, wurde als Ersatz Laubheu gesammelt. Die Krifteler Schüler sammelten und trockneten Laubheu in einer Menge von 119 Zentnern. Schließlich wurden auch noch Heilkräuter gesammelt und in den Apotheken abgegeben.

Schmerzlich für Kriftel war der Verlust einer der beiden Kirchenglocken und einiger Orgelpfeifen, die am l. Juni 1917 abgeliefert werden mußten.

Das Kriegsende

Am l. August 1918 schrieb Reichwein:
„Nun haben wir schon vier Jahre Krieg. In verschiedener Stimmung wird diesem Satz gedacht und gesprochen. Einige sagen: Welche Fülle großartiger Taten unseres Volkes. Viele aber seufzen und klagen. Wehe unserer Zeit des Jammers. Die große Masse unseres Volkes sagt diese Worte in einem dumpfen Gefühl, in einem mühsamen Stillhalten, in einem ergebenen Warten und Hoffen. Sie fühlen sich von dem Schicksal mitgetrieben. Sie fürchten sich und der Atem geht ihnen schwer. Sie warten auf den Tag, wenn es wieder Freude bereitet, ein Mensch zu sein. Wie stand das deutsche Volk in diesem furchtbaren Krieg. Hält es sich tapfer aufrecht. Es kam gewaltig über uns vor vier Jahren. Fast die ganze Menschheit gegen das deutsche Volk. Haben wir standgehalten im Sturm. Wer will daran zweifeln. Kein Feind hat deutsches Land betreten. Wo ist das ungeheure russische Heer? Wo die ungeheure englische Flotte? Wo ist Italien, das in Wien sein wollte? Unser Volk wird weiter standhalten und stürmen bis die letzte große Arbeit getan ist, bis sie uns die Erde lassen die uns gehört.

Der Krieg dauerte nicht mehr lange. Am 9. November 1918 wurde der Waffenstillstand vereinbart.

Anmerkung Josef Reichwein war über fünfzehn Jahre Hauptlehrer in Kriftel gewesen und 1921 im Alter von 69 Jahren in den Ruhestand getreten.

Quellen und Literatur

  • Berichte des Hauptlehrers Josef Reichwein in Krifteler Schulchronik, Band I, 1856 - 1936 (S. 49-68)
  • Kreis Blatt - Kreiszeitung und Kreisanzeiger für den Kreis Höchst a. M., Mikrofilme 1914 – 1918, im Stadtarchiv Eschborn
  • Krifteler Pfarrchronik (ohne Seitenangaben)
  • Adam Schlemmer, Chronik der Gemeinde Kriftel (Taunus) (S. 112-117)
  • Rainer Koch Kriftel eine Chronik 1980 (S. 88-90)
  • Mainz Die Geschichte der Stadt (S. 475-479)
  • Rudolf Schäfer, Chronik von Höchst am Main 1987 (S. 212-215)
  • Frankfurter Chronik, Dritte erweiterte Auflage 1987 (S. 392-400)

MTK-Jahrbuch 2006 - mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber