Kriftel und die Eisenbahn
Wilfried Krementz

Um 1850 setzte in Deutschland im Zusammenhang mit einem weltweiten wirtschaftlichen Aufschwung eine industrielle Revolution ein. Der Eisenbahnbau und die Schwerindustrie waren die Hauptträger dieser Entwicklung. Das Schienennetz wuchs sprunghaft: um 1845 waren es 3.280 km, 1860 schon 11.633 km und 1870 schließlich 19.575 km. Das zur Finanzierung nötige Kapital wurde meist von Aktiengesellschaften und Banken aufgebracht. Die Erträge waren für heutige Verhältnisse außergewöhnlich hoch; um 1860 konnten von den Eisenbahngesellschaften zwischen 10 und 20 % Dividende ausgeschüttet werden. Deutschland entwickelte sich in wenigen Jahrzehnten vom Agrar- zum Industriestaat.

Schwieriger gestaltete sich die Industrialisierung und der Eisenbahnbau in den deutschen Kleinstaaten, da territoriale Engstirnigkeit, Mißgunst und Angst die wirtschaftliche Entwicklung behinderten. Dies hatte sich bereits bei der 1840 in Betrieb genommenen Taunus-Eisenbahn herausgestellt, die Frankfurt mit Wiesbaden verband. Das Herzogtum Nassau und die Freie Stadt Frankfurt hatten gleiche Interessen. Frankfurt wünschte einen Anschluß an die Verkehrsader des Rheins und Nassau eine Verbindung zu der wirtschaftlich attraktiven Mainmetropole. Doch dieses Projekt widersprach den Interessen des Großherzogtums Hessen, da man wirtschaftliche Nachteile für die Stadt Mainz befürchtete. Schließlich einigte man sich darauf, daß die Strecke auch über das hessische Kastel geleitet wurde.

Nassau verfügte mit seinen Bergbau- und Hüttenbetrieben an Lahn und Dill und dem aufstrebenden Gebiet nahe Frankfurt über zwei wirtschaftliche Schwerpunkte, die verkehrsmäßig gefördert werden mußten. Deshalb fanden Bahnstrecken entlang von Rhein und Lahn und eine Nord-Süd-Verbindung durch den Taunus die meisten Befürworter.

Planung der Eisenbahnstrecke Frankfurt-Limburg

Die Errichtung einer Bahnstrecke vom Main zur Lahn wurde von der Herzoglich Nassauischen Regierung zwar als wichtig angesehen, tatsächlich aber in keiner Weise gefördert. Das Projekt konnte erst nach dem Krieg von 1866 in Angriff genommen werden, in dessen Folge Nassau dem Preußischen Staat einverleibt worden war. Unterbrochen wurden die Planungen nochmals durch den Krieg gegen Frankreich in den Jahren 1870/71.

Im Januar 1872 wurde der privaten Hessischen Ludwigsbahn der Zuschlag erteilt, die Bahnstrecke von Frankfurt durch das Lorsbach- und Emsbachtal über Idstein, Camberg nach Limburg und weiter durch den Westerwald zum Anschluß an die Köln-Gießener Bahn bauen zu dürfen. Im Gegenzug verkaufte die Hessische Ludwigsbahn an die Preußische Staatsbahn die Strecke Frankfurt-Wiesbaden, die sie selbst erst kurz zuvor übernommen hatte. Außerdem erhielt die Preußische Staatsbahn die Linie Höchst-Soden. Die endgültigen Konzessionen zur Errichtung der neuen Strecke wurden von der Preußischen Regierung 1872/73 erteilt.

Bau der Bahnlinie in Kriftel

Die Bauarbeiten begannen 1873. Die Strecke war in ihrem Unterbau für zwei Gleise konzipiert, wurde aber zunächst nur eingleisig angelegt. Um die Bahnanlagen bauen zu können, mußten zunächst die hierfür erforderlichen Grundstücke erworben werden. In Kriftel waren private, aber auch gemeindeeigene Grundstücke betroffen. Am 1. April 1874 kam es zwischen der Hessischen Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft und der Gemeinde Kriftel zu einem Vertragsabschluß. Hierin verpflichtete sich die Gemeinde, die ihr gehörenden Grundstücke, soweit sie zur Erbauung der Eisenbahnstrecke benötigt wurden, zur sofortigen Inangriffnahme des Baus zur Verfügung zu stellen. Die Kaufsumme sollte erst später auf gütlichem und gesetzlichem Wege festgesetzt werden. Im Gegenzug verpflichtete sich die Bahn, beginnend ab dem Tage des Vertragsabschlusses bis zum Zeitpunkt der Zahlung, fünf Prozent Zinsen zu entrichten.

Auch den Privateigentümern wurden Verträge zu den gleichen Bedingungen angeboten. Am 9. April 1874 lud daher die Bahnverwaltung alle betroffenen Krifteler zu einer Versammlung ein. Die meisten Grundstückseigentümer waren danach zur Unterzeichnung der Verträge bereit. Allerdings waren 19 Personen mit den Bedingungen nicht einverstanden und verweigerten ihre Unterschrift. Bereits im August wurden vom Krifteler Feldgericht die Grundstückswerte und Aufzuchtsentschädigungen eingeschätzt. Danach wurde von der Bahnverwaltung gegen die Personen, die ihre Unterschrift noch immer verweigerten, ein Enteignungsverfahren eingeleitet. Doch die Betroffenen wußten sich zu wehren. Am 3. Mai 1875 mußte die Hessische Ludwigsbahn auf Anordnung des Königlichen Amtsgerichtes in Höchst den bauleitenden Ingenieur anweisen, alle Arbeiten auf den bisher nicht erworbenen Grundstücken in der Gemarkung Kriftel einzustellen. Obwohl die Enteignungsverfahren weiter betrieben wurden, lenkte jetzt die Bahn ein und erhöhte die Entschädigungsbeträge. Schließlich konnte das Kreisblatt am 17. November 1875 folgendes berichten:

    Kriftel - Heute waren die Commissäre der Hessischen Ludwigs-Eisenbahn- Gesellschaft hier anwesend und zahlten an die hiesigen beteiligten Grundbesitzer die Geldbeträge für das zum Bahnbau nötige, größtenteils schon in Besitz genommene Gelände aus. So ist hoffentlich das größte Hindernis beseitigt, und wir dürfen nunmehr der sicheren Hoffnung leben, daß die so lange ersehnte Eisenbahn von Frankfurt nach Limburg bald fertiggestellt und im Interesse des Gemeinwohls dem Betriebe übergeben wird."

Zu Beschwerden kam es in Folge der Flurschäden, welche die Bahnarbeiter verursacht hatten. Es waren Pflanzungen und Wiesen zertreten und von Fuhrwerken zerfahren worden.

Steine von den Bahndämmen lagen weit im Gelände verstreut und schließlich wurde beanstandet, daß die Arbeiter ihre Aborte überall da, wo es ihnen gerade gepaßt hätte, auf fremden Grundstücken aufgeschlagen hätten. Wegen dieser Flurschäden wurden am 11. April 1876 nochmals 26 Grundstückseigentümer entschädigt.

Eröffnung und Anfangsjahre der Bahnstrecke

Entsprechend dem Fortgang der Bauarbeiten wurde die Linie in Teilstücken eröffnet. Im Februar 1875 war die Strecke zwischen Eschhofen und Niederselters fertig, bis Camberg im Mai 1876 und bis Idstein im Juli 1877. Ab Oktober 1877 konnten die Züge durchgehend bis Höchst fahren. Über die Jungfernfahrt zur Eröffnung der neuen Bahnlinie berichtete ein Hofheimer Chronist:

Am 14. Oktober 1877 fand auf der neu erbauten Bahn die Probefahrt statt zwischen Höchst und Idstein, was sich zu einem schönen Volksfest gestaltete. Der erste Zug kam von Höchst um 9 Uhr 30 Minuten mit der neuen Maschine nach Hofheim, welche mit Kränzen und Fahnen geschmückt war. Mit diesem Zug fuhren 200 Personen nach Idstein in Begleitung von Musik. In Idstein wurde gefrühstückt und zurück nach Hofheim gefahren, wo selbst von den Mädchen Hofheims die Festgäste im Bahnhof mit Wein und Früchten bewirtet wurden. Um 3 Uhr war Festessen in der Krone, an welchem sich über 100 Personen beteiligten. Nach dem Essen ging der Zug nach Eppstein, woselbst abends auf dem Schloß ein brillantes Feuerwerk abgebrannt wurde. Der offizielle Zugverkehr begann am 15. Oktober 1877."

    Der aus Diedenbergen stammende Zeitungssänger Philipp Keim widmete der neuen Eisenbahnverbindung ein Gedicht von neun Strophen, dessen erste nachfolgend wiedergegeben wird:

    Wir fahren jetzt zum Thor hinaus, Adieu!
    Aus H
    öchst der neue Eisenbahn so schön.
    Hofheim die erste Station,
    Wir thun Euch all begr
    üßen schon,
    Seid mit verbunden nun.
    Wer fremd ist, der seh' sich hier um,
    Die Zeit, die geht ja schnell herum,
    Der Zug hat keine Ruh'
    Fort, fort, nach Lorsbach zu."

Aus dem ersten Fahrplan ist zu ersehen, daß täglich zwischen Frankfurt und Limburg nur vier Züge in jede Richtung verkehrten. Der Morgenzug ab Limburg erreichte Kriftel um 8.49 Uhr und war um 9.28 Uhr in Frankfurt. Betrug die Fahrzeit damals noch 39 Minuten, so benötigt die S-Bahn von Kriftel bis Frankfurt-Hauptbahnhof heute nur noch 17 Minuten.

Daß es auch schon früher Beschwerden über die Bahn gab, zeigen Auszüge aus einem Leserbrief, erschienen am 2. August 1895 im Frankfurter Generalanzeiger:

Gestatten Sie, daß ich in einer so lange bekannten Beschwerdesache die Öffentlichkeit um Hilfe rufe. Ich nenne nur den Namen: Hessische Ludwigsbahn. Sind Sie auch schon einmal in einer jenen lebensgefährlichen Viehwagen befördert worden? Die Breitseite dieser Viehwagen ist zur Hälfte offen, vor der gewaltigen Öffnung liegt während der Fahrt nur eine eiserne Stange als Verschluß, und auf solche Art wird dann oft ein vollgedrängter Wagen von Dritter-Klasse-Passagieren befördert. Der Ausstieg aus den Wagen ist nur Turnern möglich, für ältere Leute ist er mit Lebensgefahr verbunden. Bei dem Abstieg aus diesen Musterkarossen riskiert man seine heilen Knochen. Ich möchte fragen, wieso sich die Polizei nicht darum kümmert?"

Im Jahre 1895 berichteten die Zeitungen längst über eine drohende Verstaatlichung der Hessischen Ludwigsbahn. Auf Weisung Bismarcks wurden nämlich alle bedeutenden - bisher noch selbständigen - Bahnunternehmen in Staatsbesitz überführt. Im Jahre 1896 kam es zu einem preußisch-hessischen Staatsvertrag, der den Ankauf der Hessischen Ludwigsbahn und die Bildung einer gemeinsamen Preußisch-Hessischen Eisenbahnverwaltung vorsah. Die Aktionäre der Ludwigsbahn wurden mit Staats-Schuldverschreibungen und einer baren Abfindungssumme entschädigt. Alle auf preußischem Territorium befindlichen Strecken der Ludwigsbahn, also auch die Linie Höchst-Limburg, wurden der Preußischen Eisenbahndirektion in Frankfurt unterstellt.

Der erste Krifteler Bahnhof

Die Bahnakten enthalten einen Plan der Krifteler Bahnanlage aus der Zeit um 1890. Das Bahnhofsgebäude, im Plan als provisorisches Empfangsgebäude bezeichnet, lag in unmittelbarer Nähe des heutigen Bahnhofs. In Verlängerung der Bahnhofstraße führte ein Übergang über die Gleise zum Mönchhof. Links vom Bahnhof gab es eine Güterhalle mit Verladerampe und dort abzweigend führte ein Gleis zur benachbarten Backsteinfabrik des Ludwig Repp (spätere Ziegelei Brockbals).

Das Bahnhofsgebäude war im Jahre 1877 errichtet worden. Die Hessische Ludwigsbahn hatte beim Abriß einer anderen Station das Fachwerkgerippe nach hier überführen, neu aufstellen und die Gefache mit Steinen ausmauern lassen. Am 7. Mai 1912 teilte der Krifteler Bürgermeister Johann Sittig der Königlichen Eisenbahndirektion in Frankfurt mit, daß Kriftel ein Wasserleitungsnetz erhalten würde, mit dessen Verlegung noch in dieser Woche begonnen werde. Er stellte die Frage, ob auch der Bahnhof angeschlossen werden solle. Bei dieser Gelegenheit kritisierte er die schlechten Beleuchtungsverhältnisse des Bahnhofs mittels Petroleumlampen und empfahl den Anschluß an die in der Nähe verlaufende Stromleitung der Main- Kraftwerke. Die Antwort der Bahnverwaltung fiel brüsk aus. Ein Anschluß an das Wasserleitungsnetz sei nicht erforderlich, da dies mit einem Kostenaufwand von 300 Mark verbunden wäre. Außerdem würde sich in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs ein Brunnen befinden, der auch künftig völlig ausreichend wäre. Auch eine elektrische Beleuchtung hielt die Bahn für überflüssig.

Kriftel und die Eisenbahn - 1877

Das Bahnhofsgebäude von 1877, dahinter die ehemalige Gaststätte Zur Eisenbahn"
Kriftel und die Eisenbahn - um 1900.

Wandmalereien in der ehemaligen Gaststätte Zur Eisenbahn", jetzt Bahnhofstr. 38. Die Malereien entstanden in der Zeit um 1900 und wurden bei Restaurierungsarbeiten entdeckt (Fotos: Wilfried Ilse)


Unzufrieden mit den Verhältnissen des Bahnhofs waren vor allem die täglich zur Arbeit fahrenden Benutzer der Bahn, wie aus folgendem Leserbrief vom 19. Februar 1913 in der Kleinen Presse" hervorgeht:

Kriftel. Der zur Zeit stark im Aufblühen begriffene Ort Kriftel a.T. wird von der Kgl. Preuß. Eisenbahn-Direktion sehr stiefmütterlich behandelt. Auf der ganzen Strecke von Frankfurt bis Limburg sind in jüngster Zeit an allen Stationen neue Bahnhofsgebäude errichtet worden, nur unser Ort wurde dabei übergangen, trotzdem die Mittel dafür bereits vor vier Jahren bewilligt wurden. Nicht nur wirkt das Gebäude nach außen hin sehr nachteilig, man kann es auch keinem Menschen zumuten, sich in dem Warteraum aufzuhalten, zumal des Morgens. Die miserable Petroleumbeleuchtung verursacht einen solchen Gestank, daß es unmöglich ist, sich längere Zeit in dem Räume aufzuhalten, auch muß man gewärtig sein, daß man am Billetschalter durch die daselbst aufgehängte Petroleumlampe mit Petroleum beträufelt wird. Bei schlechtem Wetter ist man gezwungen, sich im Freien aufzuhalten, weil der beengte Raum nicht alle Passagiere fassen kann; es ist schon vorgekommen, daß Leute im Bedürfnishäuschen Schutz suchen mußten, das obendrein noch nicht einmal beleuchtet ist. Kriftel ist doch unserer Schätzung nach eine gut frequentierte Bahnstation, die viele andere Stationen der gleichen Strecke überflügelt. Es fahren jeden Tag etwa 200 Passagiere dritter und 300 Passagiere vierter Klasse; auch ist der Güterverkehr nicht zu unterschätzen. Aus diesem Grunde glauben wir annehmen zu dürfen, daß es sehr am Platz ist, wenn die Kgl. Eisenbahn- Direktion baldmöglichst Wandel schafft, indem sie das bereits vorgesehene und bewilligte Bahnhofsgebäude errichtet."

Die hinhaltende Taktik der Bahnverwaltung führte zu zahlreichen Beschwerden Krifteler Bürger. Am nachhaltigsten wurden die Krifteler Interessen durch den Bürgerverein von 1912, Kriftel a.T." vertreten. Dieser Verein, dem eine Reihe angesehener Bürger angehörten, hatte sich die Verschönerung des Ortes zum Ziel gesetzt. Der Verein verstand es geschickt, die Presse für seine Belange einzuschalten, um Druck auf die Bahn auszuüben. Der nachfolgende Auszug aus einem langen Artikel im Höchster Kreisblatt vom 13. Februar 1913 gibt einen Eindruck vom Aussehen des Bahnhofsgebäudes:

    Kriftel, 12. Febr. In der letzten Sitzung des hiesigen Bürgervereins wurde dem allgemeinen Unmute über die veralteten und gänzlich unzulänglichen hiesigen Bahnhofsverhältnisse in kräftigen Worten Ausdruck gegeben. Genau wie vor ca. 40 Jahren, als Kriftel Station wurde, präsentiert sich auch heute noch unverändert das einfache Holzhäuschen mit seinen zwei Räumen, seiner trüben Petroleumbeleuchtung und seinem Anbau, einem ausrangierten Personenwagen. Es handelt sich in der Tat noch um ein Originalmodell der allerersten transportablen Bahnhofsanlagen der ehemaligen Hess. Ludwigsbahn, das nach längerer Dienstzeit an verschiedenen anderen Orten nach hier gekommen und anscheinend vergessen worden ist. Die Eisenbahnverwaltung sei hiermit auf dieses historische Stück aufmerksam gemacht, daß es noch rechtzeitig dem Eisenbahnmuseum überwiesen werden kann, ehe es zu spät ist; d.h. ehe die Bretter ganz vermorschen. Im und vor dem Bahnhof und auf den Bahnsteigen befinden sich trübe, plakende Petroleumlampen mit Brenner-Modell vorigen Jahrhunderts. Auch wenn die Bahnverwaltung zu Recht Sparsamkeit übt, so darf es doch nicht so weit gehen, daß für notorische Übelstände die Abhilfe versagt wird."

Auch die Gemeinde Kriftel beschwerte sich in zahlreichen Schreiben bei der Bahn. Bürgermeister Sittig wies vor allem darauf hin, daß das unschöne Blockhäuschen nicht nur einen schlechten Eindruck machen würde, sondern auch von Nachteil für den Ort wäre. Schließlich würde jeder Fremde beim Anblick dieses Bahnhofs auf das Aussehen des Ortes schließen. Steuerkräftige oder bessere Leute könnten dadurch nicht angelockt werden. Beanstandet wurden nicht nur die Unzulänglichkeiten des Bahnhofsgebäudes, sondern auch der morastige Bahnhofsvorplatz. An der Ecke Bahnhofstraße befand sich nämlich ein Brunnen, dessen Wasser in einer Rinne beständig auf den Platz floß. Besonders im Herbst, wenn die Bauern mit ihren Fuhrwerken Zuckerrüben über den Bahnhofsvorplatz zu den vor der Güterhalle stehenden Waggons fuhren, soll dieser fast unbegehbar gewesen sein.

Kriftel und die Eisenbahn, 1877

Das Krifteler Bahnhofsgebäude im 1877, in einer zeitgenössischen Aufnahme, vermutlich vor dem 1. Weltkrieg. (Foto: Elisabeth Steinmanns, Repro: Gerhard Jaeger)

Kriftel und die Eisenbahn - vor 2002

Der Krifteler Bahnhof vor dem bisher letzten Umbau im Juni 2002 (Foto: Wilfried Krementz)
 

Fast schon belustigend erscheint es, daß die Bahnbediensteten, wenn sie Wasser benötigten, sich dieses bei den Anwohnern der Bahnhofsstraße erbitten mußten. Das Wasser des nahen Brunnens war nämlich kein Trinkwasser und den Anschluß an die Wasserleitung hatte die Bahnverwaltung als unnötig erachtet. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung erhielt der Krifteler Bahnhof schließlich im Juni 1913 neue Spirituslampen. Außerdem genehmigte die Eisenbahndirektion endlich ein neues Bahnhofsgebäude. Da die Bahnstrecke zu diesem Zeitpunkt zweigleisig ausgebaut wurde, sollten Abriß und Neubau des Bahnhofsgebäudes bis zur Fertigstellung des zweiten Gleises zurückgestellt werden. Als Termin war der 1. Oktober 1915 vorgesehen. Der im Oktober 1914 beginnende Weltkrieg zerschlug dann alle Hoffnungen auf einen Neubau.


Der lange Weg bis zum Bahnhofsneubau

Der Krieg, die anschließende französische Besatzungszeit, Inflation und Weltwirtschaftskrise hatten zur Folge, daß an einen Bahnhofsneubau nicht zu denken war. Durch Staatsvertrag zwischen dem Reich und den Deutschen Ländern wurde zum 1. April 1920 die Deutsche Reichsbahn gegründet. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Beschwerden der Krifteler wieder zu. Aus einem Schreiben vom 1. August 1920 geht hervor, daß das Bahnhofsgebäude vom Schwamm befallen war. Deswegen mußte der ganze Fußboden aufgerissen werden. Die Schreiben der Gemeinde an die Bahnverwaltung wurden immer schärfer:

    Das Fachwerkgerippe des Bahnhofs verschandelt den ganzen Ort und gehört einem Naturmuseum zur Erinnerung an alte herrliche Zeiten einverleibt. Es ist unverständlich, wie kleine und unbedeutende Stationen der Neuzeit entsprechende Bahnhöfe erhielten und der hiesige, direkt hinter Höchst liegende vergessen wurde."

Schließlich wurde die Eisenbahndirektion in Frankfurt vom Reichsverkehrsministerium in Berlin angewiesen, ein neues Bahnhofsgebäude für Kriftel zu projektieren. Im März 1923 wurde der Bauplan der Gemeinde Kriftel vorgelegt. Verwirklicht wurde auch diese Planung niemals. Ein Grund war die fortschreitende Inflation. Waren die Baukosten zunächst auf 35 Millionen Mark geschätzt worden, so wurde das Projekt mit jedem Tag unbezahlbarer.

Ein weiterer Grund lag in den politischen Verhältnissen. Im Januar 1923 besetzten französische Truppen das Ruhrgebiet. Daraufhin proklamierte die deutsche Reichsregierung den passiven Widerstand gegen die Besatzungsmacht, dem zahlreiche pflichtgetreue Beamte folgten. Auch die Eisenbahner wurden aufgefordert, ihren Dienst einzustellen, weshalb auch am Krifteler Bahnhof die Arbeit niedergelegt wurde. Wegen ihres Widerstandes wurden am 23. April 1923 der Bahnhofsvorsteher Klein und die Angestellten Bicker und Link samt ihren Familien von den Franzosen in das nicht besetzte Reichsgebiet ausgewiesen. Erst eineinhalb Jahre später wurde Johann Klein die Rückkehr gestattet. Aufgrund der angespannten Verhältnisse wurde die Grenze zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet vom 2. Juli bis 1. Oktober 1923 gesperrt. Der Bahnverkehr zwischen Limburg und Frankfurt ruhte in dieser Zeit völlig.

Kriftel erhielt erst in den Jahren 1937/38 ein neues Bahnhofsgebäude. Es ist jenes Gebäude, welches im wesentlichen noch heute existiert. Dort, wo sich der Eingang zur Bücherei befindet, betrat man die Halle mit zwei Fahrkartenschaltern und einer separaten Gepäckannahmestelle. Zur Rechten befand sich der etwa 35 qm große Warteraum, der rundum mit einer eingebauten Bank versehen war. Der große Dienstraum, der nach dem Bahnsteig zu vorgebaut war, diente zur Aufnahme der Stellwerkseinrichtung. Den ersten Stock bewohnte der Bahnhofsvorsteher. Als besonders angenehm wurde empfunden, daß im Gegensatz zu früher der Bahnsteig überdacht war. Da die Überdachung an das Bahnhofsgebäude angebunden war, konnte man jetzt trockenen Fußes vom Schalterraum direkt in den Zug gelangen.

Die Eisenbahnbrücke

Bei allen Fortschrittsgedanken, die mit dem Eisenbahnbau verknüpft waren, zeigten sich auch Nachteile. So sah sich die Bevölkerung durch die Bahntrasse in ihrer freien Bewegungsmöglichkeit gehemmt und von ihren Feldern abgeschnitten.

In Kriftel gab und gibt es noch heute verhältnismäßig viele Möglichkeiten, über die Gleise zu gelangen. Von Beginn an gab es den Übergang an der heutigen Paul-Duden-Straße. Dort (Ecke Mönchhofweg) wurde im Jahre 1911 ein Stellwerksgebäude errichtet.

Kriftel und die Eisenbahn - die Brücke vor dem Abbruch

Die alte Krifteler Eisenbahnbrücke wenige Tage vor ihrem Abbruch (Foto: Wilfried Krementz)
Kriftel und die Eisenbahn - 2004

Von vielen Kriftelern bedauert: Beseitigung der Brücke in der Nacht vom 5. auf den 6. September 2004 (Foto: Gerhard Jaeger)
 

Ein weiterer Übergang existierte nahe der früheren Bonifatiuskapelle. Dieser Übergang wurde nach dem Bau einer Unterführung geschlossen. Nur für Fußgänger wurden die Durchgänge am Schwarzbach und in die Unterwiesen geschaffen. Der am meisten genutzte Übergang führte in Verlängerung der Bahnhofstraße direkt über die Gleise. Aus einem Schreiben geht hervor, daß schon um 1900 das Verkehrsaufkommen so hoch gewesen sei, daß der Bahn dieser Übergang lästig wurde. Als die Gemeinde im Jahr 1904 die Pflasterung der Bahnhofstraße beabsichtigte, befürchtete die Bahn eine weitere Zunahme des Verkehrs. Deshalb stellte die Königliche Eisenbahndirektion in Frankfurt am 1. Dezember 1904 an den Minister für öffentliche Arbeiten in Berlin den Antrag, in Kriftel eine Brücke über die Gleise errichten zu dürfen. Die Planungen und der Erwerb der hierzu notwendigen Grundstücke dauerten mehrere Jahre, so daß mit der Errichtung des Bauwerks erst 1911/12 begonnen werden konnte. Am 7. Mai 1912 beschwerte sich Bürgermeister Sittig bei der Eisenbahndirektion, daß ihm noch immer keine Pläne zur Genehmigung vorgelegen hätten, obwohl die Brücke doch schon im Bau begriffen sei. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

Die erwähnte Baupolizeiordnung erstreckt sich nur auf Hochbauten und nicht auf Brücken. Aus diesem Grunde wurde die Vorlage unterlassen und ist, falls nicht anders verfügt wird, auch nicht in Aussicht genommen."

Überhaupt gab es wegen der Brücke einige Streitpunkte zwischen Bahn und Gemeinde. Vor allem ging es um eine Treppenanlage von der Brücke herab, so daß Fußgänger ohne Umweg zum Bahnhof gelangen konnten. Die Gemeinde behauptete, daß diese Treppe im Lokaltermin am 19. Juli 1910 zugesagt worden sei, was von Seiten der Bahn bestritten wurde. Die Treppe ist dann schließlich doch noch gebaut worden. Außerdem hatte sich herausgestellt, daß der auf beiden Seiten der Brücke errichtete Überführungsdamm mehr Gelände als vorgesehen in Anspruch nahm. Die Grunderwerbsverhandlungen zogen sich in die Länge. Die Pflasterarbeiten auf der Brücke wurden deshalb erst im Oktober 1914 ausgeführt, obwohl die Eisenkonstruktion bereits Ende 1912 fertig gestellt war. Die Brücke war eine eiserne Fachwerkkonstruktion mit Diagonalstreben, die beiderseits der Gleise auf Betonsockeln ruhten. Bei einer technischen Prüfung im Jahre 2003 wurde festgestellt, daß sich die Eisenkonstruktion in einem bedenklichen Zustand befand. Am 1. März 2004 wurde sie deshalb für den Verkehr gesperrt und kurz darauf abgerissen. Inzwischen ist an ihre Stelle eine moderne Spannbetonbrücke getreten.

Kriftel und die Eisenbahn: P 38

Zur Abfahrt bereitstehender Personenzug mit einer Lokomotive der Baureihe 3810'40 (Preuß. P8) um 1960 im Bahnhof Kriftel (Foto: Wilhelm Knobloch)
 

Das Baggerloch

Das in Kriftel als Baggerloch bekannte Gelände, auf dem sich jetzt die Konrad- Adenauer-Schule befindet, entstand durch den Bau der Eisenbahnlinie. Dort wurde der Kies abgebaut, der für die Eisenbahndämme benötigt wurde. Auch in späteren Jahren entnahm die Reichsbahn immer wieder Material aus der Grube. Schon vor dem Ersten Weltkrieg wurde zusätzliches Gelände gepachtet, um ein provisorisches Nebengleis in die Grube legen zu können. Insbesondere in den Jahren 1926 bis 1928 wurden zur Erweiterung der Bahnhofsanlagen in Höchst und für die Bad Homburger Bahnstrecke große Mengen Kies gefördert.

Das von der Bahn verlegte Anschlußgleis in die Grube war für die Gemeinde nicht unproblematisch und führte zu Streit. Die Gleise überquerten nämlich in einer Kurve die Straße von Hattersheim nach Hofheim. Da die Verkehrssituation dort unübersichtlich war, führte dies zu mehreren Verkehrsunfällen. Die Gemeinde kündigte daraufhin die verpachtete Zufahrt zur Grube. Erst als die Reichsbahndirektion Frankfurt ein Enteignungsverfahren in Gang setzen wollte, lenkte die Gemeinde ein. Die strittige Zufahrt blieb der Bahn für die Ausbeutung der Grube erhalten.

Später erlangte das Baggerloch nochmals Bedeutung durch den Bau der Reichsautobahn. Im Jahre 1935 wurden neue Gleise in die Grube verlegt und dort 300.000 cbm Kies abgetragen. Dieser wurde in Griesheim zur Errichtung eines Dammes für die über den Main führende neue Autobahnbrücke sowie für die Erhöhung des Bahnkörpers am Rebstockgelände benötigt.

Die Neuzeit

Im Jahre 1951 begann die Epoche der Deutschen Bundesbahn. Zu großen Veränderungen kam es vor etwa 30 Jahren durch die Einführung der S-Bahn. Unsere Strecke wurde von Frankfurt bis Niedernhausen elektrifiziert und viele Bahnhöfe mußten den neuen Anforderungen angepaßt werden.
Kriftel und die Eisenbahn - 1966

Das ehemalige Stellwerk am Übergang Paul-Duden-Str./Mönchhofweg. Aufnahme 1966 (Foto: Theodor Horn)
 

In Kriftel wurden die Bahnsteige erhöht und der unterirdische Durchgang zum zweiten Gleis gebaut. Um die Elektrifizierung durchführen zu können, mußte die Krifteler Eisenbahnbrücke um einen halben Meter angehoben werden. Am 15. Oktober 1970 konnte der elektrische Zugbetrieb aufgenommen werden. Schon damals war die Gemeinde bestrebt, die Unterführung zu verlängern, um auch vom Gewerbegebiet her einen Zugang zu ermöglichen. Im Juni 1969 hatte Bürgermeister Wittwer zwar von aussichtsreichen Verhandlungen mit der Deutschen Bundesbahn gesprochen, aber letztlich blieb es aus Kostengründen bei der verkürzten Tunnellösung.
Kriftel und die Eisenbahn - um 1965

Zug mit Lokomotive V 200.014 aus Richtung Hofheim kommend. Links der Weg in die damals noch unbebauten Unterwiesen. Aufnahme um 1965 (Foto: Theodor Horn)
 

Nach Einführung der S-Bahn hatte das Bahnhofsgebäude seine frühere Aufgabe verloren und wurde 1980 zum Kultur- und Informationszentrum ausgebaut. Im Rahmen der vom 10. bis 19. Oktober dauernden Krifteler Woche'' wurde der neu gestaltete Bahnhof, worin die Gemeindebücherei und das Volksbildungswerk ein neues Zuhause gefunden hatten, der Öffentlichkeit vorgestellt. Als besonderen Höhepunkt erlebten mehr als 2.000 Menschen die Taufe eines S-Bahnzuges auf den Namen Kriftel". Seit 1991 befindet sich das Bahnhofsgebäude im Eigentum der Gemeinde. Zuvor hatte die Gemeinde den Bahnhofsplatz und das Gebäude mit einem Kostenaufwand von DM 3,3 Millionen neu gestalten lassen. Das Höchster Kreisblatt berichtete Ende 1990 anerkennend über die Umgestaltung:

Während heruntergekommene S-Bahn-Haltestellen anderswo Bürgern wie Politikern die Haare zu Berge stehen lassen, ist der Zugstop in der Obstbaugemeinde präsentabel hergerichtet - vor dem schnuckeligen Empfangsgebäude ein gepflasterter Vorplatz mit Brunnen und Grünflächen. Es ist ein Schmuckstück für die Gemeinde Kriftel."

Inzwischen hat die Gemeinde das Ausweichgleis (Gleis 3) von der Bundesbahn erworben und zunächst einen provisorischen Übergang ins Industriegebiet geschaffen. Anläßlich der 20-jährigen Partnerschaft mit der französischen Stadt Airaines wurde im September 2001 der Bahnhofsvorplatz in Platz von Airaines" umbenannt. In jüngster Zeit ist das ehemalige Bahnhofsgebäude von der Gemeinde aufgestockt worden, wodurch die Bücherei entscheidend erweitert werden konnte.

Quellen und Literatur

Hessisches Hauptstaatarchiv Wiesbaden: Abt. 406/112, 579, Abt. 407/449, Abt. 443/31, Abt. 480/1078,1079,1080, 1081,1082, 2164
Bauamt der Gemeinde Kriftel: Akte Bahnhof
Heimatmuseum Kriftel: Krifteler Nachrichten (Artikelsammlung), ab 1950
Kreis-Blatt für den Kreis Höchst a.M. (Mikrofilme im Stadtarchiv Eschborn): Jahrg
änge 1911-1914
Leben und Wirken des nassauischen Eisenbahnplaners Moritz Hilf, in: Nassauische Annalen, 2001
Reichsbahnoberinspektor Lebeau: Die Entstehung der Eisenbahnen im Rhein- Main-Gebiet, in: Die Reichsbahn, Amtliches Nachrichtenblatt der Deutschen Reichsbahn, 1939
Friedrich Schiemenz: Die Eisenbahngeschichte des goldenen Grundes, 1977
Eisenbahn in Hessen, Eisenbahnbauten und -strecken 1839-1939, Band 2, 2005 (S. 512-513)
Heinz Hirt: 125 Jahre Main-Lahn-Bahn H
öchst-Limburg, 2002
Wilfried Krementz: 125 Jahre Eisenbahn in Kriftel, in: Krifteler Nachrichten, Fortsetzungsserie 4. Oktober bis 1. November 2002

MTK-Jahrbuch 2008 - mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber

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