Eine Studie des lokalen Terrors
Hattersheim: Die Historikerin Anna Schmidt legt Forschungsbericht über die NS-Zeit vor /Ausstellung geplant

Von Barbara Helfrich

Weitaus mehr Hattersheimer als bisher bekannt, sind von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet worden. Das hat die Historikerin Anna Schmidt bei ihren Recherchen im Auftrag der Kommune herausgefunden.

Schmidt stieß auf 88 Personen, die als Juden verfolgt worden waren. Aufgrund der rassistischen Gesetze waren auch Bürger betroffen, die sich selbst gar nicht als Juden ansahen. „Ein besonders tragischer Fall ist der einer junge Frau, die schon in den 20er Jahren einen Katholiken geheiratet hatte und selbst zum katholischen Glauben übergetreten war", berichtet Schmidt. Damit lebte die Frau aus nationalsozialistischer Sicht in einer „privilegierten Mischehe". Sie hatte aber eine heimliche Liebesbeziehung, die im Frühjahr 1942 denunziert wurde. Wegen „Rassenschande" wurden sowohl die Frau als auch ihr Freund in Konzentrationslager gebracht.

Im kollektiven Gedächtnis der Hattersheimer sei die Judenverfolgung aber kaum präsent, glaubt Schmidt. Das liege daran, daß viele Juden aus dem Ort schon in den 30er Jahren wegzogen und versuchten, in den „anonymeren" Großstädten zu überleben. Sie wurden dann von Frankfurt aus deportiert und die Hattersheimer bekamen nichts mehr davon mit. Andere Juden blieben aber in Hattersheim und wurden von dort aus deportiert, zum Beispiel Sophie Maas, die ein Kolonialwarengeschäft an der Hauptstraße hatte.

Sie mußte den Laden laut Schmidt schon 1934 schließen, weil die Kunden ausblieben. Im Mai 1943 wurde sie dann von der Gestapo vorgeladen und kam nicht mehr zurück.
Bahnhofsvorplatz Hattersheim 1933 - Maifeier

Unterm Hakenkreuz: Maifeier 1933 auf dem Bahnhofsvorplatz.

Auch jüdische Familien aus Eddersheim und Okriftel wurden deportiert, insgesamt mehr als ein Dutzend Menschen, wie Schmidt in den vergangenen Monaten herausgefunden hat.

Sie kann zudem belegen, das die Pogromnacht im November 1938 „sehr heftig" war. In Okriftel etwa sei das Haus des Ehepaars Schwarz so stark beschädigt worden, daß ein Wiederaufbau nicht gelohnt habe. Auch in Eddersheim und Okriftel habe es erhebliche Zerstörungen gegeben. Deshalb vermute die Historikerin, daß ein SA-Rollkommando für die Ausschreitungen verantwortlich war. Offen bleibe, wie sehr sich die Hattersheimer Bevölkerung selbst an dem Pogrom beteiligte.

Von der NS-Verfolgung waren in Hattersheim nicht nur Juden betroffen. Schmidt berichtete kürzlich vor dem Sozialausschuß auch über das Schicksal von Sinti, die seit drei Generationen in Okriftel seßhaft gewesen waren: Familie Adam wurde im März 1943 nach Auschwitz deportiert. Der Vater und sieben teils schon erwachsene Kinder kamen dort um. Nur Tochter Alwine überlebte.

Nach ihrem Bericht hätten die Zuhörer zunächst betroffen geschwiegen, berichtet die Historikerin: „Ich hatte den Eindruck, daß mein Vortrag etwas angestoßen hat."

Ende Oktober werden Schmidts Forschungsergebnisse zur Hattersheimer NS- Geschichte als Buch veröffentlicht, zudem wird es zum 70. Jahrestag der Pogromnacht eine Ausstellung geben. In Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll- Schule ist außerdem ein Geschichts-Workshop für Zehntklässler geplant.

Frankfurter Rundschau - 20.3.08 - mit freundlicher Erlaubnis der FR