Die Nebenerwerbssiedlung in Schwalbach am Taunus
DIETER FARNUNG

Mit dem 7. Mai 1954 begann für 31 heimatvertriebene Familien in Schwalbach am Taunus ein neuer Lebensabschnitt. An diesem Tag konnten sie das Richtfest für 31 Häuser in der neuen Nebenerwerbssiedlung an der Sodener Straße feiern. Ein langer und beschwerlicher Weg lag hinter ihnen und allen anderen Beteiligten, den Landesbehörden, dem Kreis, der Gemeindeverwaltung, auch den Dorfbewohnern.

Schwalbach am Ende des Zweiten Weltkriegs

Der zweite Weltkrieg hatte auch in Schwalbach deutliche Spuren hinterlassen. Nach insgesamt vier Fliegerangriffen waren etwa 180 Gebäude - Häuser, Scheunen und Stallungen - beschädigt oder zerstört, zum Teil total. 35 Bombenopfer, darunter auch Kinder, waren zu beklagen. Die Gemeindeverwaltung hatte vorrangig elementare Aufgaben zu bewältigen, wie die Beseitigung der Kriegsschäden, die Versorgung der Bevölkerung, insbesondere die Beschaffung von Wohnraum für Teile der Einwohnerschaft, aber auch für die zahlreichen Evakuierten und Ausgebombten, hauptsächlich aus Frankfurt am Main. Verschärft wurde die Lage, als ab März 1946 und in den Folgemonaten zahlreiche Flüchtlingstransporte im Main-Taunus-Kreis eintrafen.

Nach ihrer Ankunft in Frankfurt-Höchst und kurzen Zwischenaufenthalten in verschiedenen Durchgangslagern wurden die Heimatvertriebenen auf die einzelnen Gemeinden verteilt. Gemäß dem Protokoll der Schwalbacher Gemeindevertretung vom 1. März 1946 waren hier in den nächsten Tagen 50 Personen zu erwarten. Nach einer „Liste der Flüchtlinge" mußte die Gemeinde (Schwalbach) in den Folgemonaten insgesamt 279 Vertriebene aufnehmen, vornehmlich aus dem Egerland. Das entspricht einem Anteil an der gesamten Einwohnerschaft von 12,5%. Beim Wiederherstellen beschädigter oder zerstörter Häuser war die Gemeinde sehr hilfsbereit, auch durch Übernahme von Bürgschaften. Hinsichtlich der Erschließung neuer Baugebiete bzw. der Genehmigung von Bauanträgen verhielt sich die Gemeindevertretung sehr zögerlich. Baugenehmigungen gab es nur bei gesicherter Finanzierung, und das auch in der Regel nur für Einheimische. Auswärtige Bau willige hatten kaum eine Chance.

Lageplan der Nebenerwerbssiedlung

Die Nebenerwerbssiedlung in der Wald-, Breslauer, Hofheimer und Karlsbader Straße
(Repro: Stadt Schwalbach am Taunus)

Grundriß

Grundriß des Erdgeschosses der Häuser in der Nebenerwerbssiedlung
(Foto: Heinz Aschenbrenner)

 

Vor dem Baubeginn

Es dauerte geraume Zeit, bis in das Bemühen um Wohnraumbeschaffung in Schwalbach Bewegung kam. Die ersten Anstöße dazu kamen von außen. Dazu zählten unter anderem das „Gesetz über die Aufnahme und Eingliederung deutscher Flüchtlinge" (Flüchtlingsgesetz) vom 19. Februar 1947 und der „Hessenplan". Ziel war die Wiedereingliederung in das möglichst berufsnahe Arbeitsleben in Verbindung mit der dazu notwendigen Wohnraumbeschaffung. In seinem Rundschreiben vom 20. Mai 1952 betonte der damalige Landrat des Main-Taunus-Kreises, Dr. Joseph Wagenbach, die Notwendigkeit, möglichst viele Heimatvertriebene in landwirtschaftlichen Nebenerwerbsstellen anzusiedeln. Damit sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden, neben dem Haupterwerb einer landwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen, welche die meisten schon in ihrer Heimat ausgeübt hatten, und dies war angesichts der engen Versorgungslage nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig.

Initiator für den Bau einer solchen Nebenerwerbssiedlung in Schwalbach am Taunus war die „Nassauische Siedlungsgesellschaf t" (später „Nassauische Heimat"), die hier das größte Siedlungsprojekt im ganzen Regierungsbezirk plante. Entscheidend war wohl auch die Tatsache, daß das Land Hessen ehemaliges Domänenland als Bauland zur Verfügung gestellt hatte. So stimmten nun auch die Schwalbacher Gemeindevertreter dem Bauprojekt zu. Mit ihrem Beschluß vom 24. April 1953 zur Übernahme der Erschließungskosten durch die Gemeinde Schwalbach gaben sie endgültig grünes Licht für den Baubeginn.

Schon fünf Tage später, am 29. April 1953, beschloß die Gemeindevertretung die Namensgebung für die Straßen in der neuen Siedlung: Hofheimer Straße, Karlsbader Straße, Waldstraße und - etwas später - Breslauer Straße.

Die Entstehung der Siedlung

Die Bauarbeiten, einschließlich der Erschließung des Baugeländes, begannen nun im Frühjahr 1953 und gingen sehr zügig voran. In zwei Bauabschnitten sollten 60 Häuser mit je einer Einliegerwohnung, also insgesamt 120 Wohnungen, entstehen, wobei sich die Gemeinde Schwalbach nach dem Beschluß vom 24. April 1953 die Vergabe der Einliegerwohnungen vorbehielt. Der erste Bauabschnitt umfaßte den Bau von 30 Häusern in der Karlsbader Straße sowie in Teilen der Waldstraße und Hofheimer Straße. Die restlichen 30 Häuser wurden bis zum Jahr 1957 in der Breslauer Straße sowie auch wieder in Teilen der Waldstraße und Hofheimer Straße fertig gestellt.

Jedes Haus umfaßte Kellergeschoß, Erd- und Dachgeschoß. Wie aus dem Grundriß ersichtlich, befanden sich im Erdgeschoß neben dem Wohnzimmer und den zwei Kinderzimmern auch die Küche sowie ein Arbeitsplatz, zwei Ställe und ein Vorratsraum für Holz. Zu „Bad-WC " muß gesagt werden, daß dort zunächst nur eine Toilette und ein kleines Waschbecken vorgesehen waren. Die Wohnungsgröße betrug 60 Quadratmeter. Zum Haus gehörte ein rund 1000 Quadratmeter großes Grundstück zur landwirtschaftlichen Nutzung. Die Baukosten für ein Haus beliefen sich auf rund 25.000,— DM, die zunächst vom Land Hessen übernommen wurden. Die monatliche Miete betrug 90,-- DM, wovon Mieter der Einliegerwohnung jeweils 35,-- DM zu tragen hatten.

Die Auswahl der Bewerber

Die Anzahl der Bewerber für eine Siedlerstelle war verständlicherweise sehr hoch. Besonders viele kamen aus Nordhessen, dem Zonenrandgebiet, auch aus dem Usinger Land, viele natürlich aus Schwalbach selbst. Die Erstauswahl oblag den Flüchtlingsämtern des jeweiligen Kreises. Die endgültige Auswahl erfolgte durch einen Ausschuß des Hessischen Innenministeriums. Die Bewerber mußten für landwirtschaftliche Tätigkeit geeignet sein und den Nachweis führen, daß diese früher ihre Lebensgrundlage bildete. Das war im Einzelfall oft schwierig gewesen, zumal dann, wenn keine schriftlichen Belege vorhanden waren, die den Besitz bzw. Verlust eines bäuerlichen Betriebes belegen konnten.

Kurz vor der Fertigstellung

Die Nebenerwerbssiedlung kurz vor der Fertigstellung
(Foto: Heinz Aschenbrenner)


Richtfest und Einzug

Vom Beginn der Bauarbeiten im Frühjahr 1953 bis zur Fertigstellung des Rohbaus verging etwa ein Jahr. Schon am 7. Mai 1954 wurde das Richtfest für die ersten 31 Häuser gefeiert. 31 Neusiedler wußten, daß es nun nicht mehr lange dauern würde, bis sie wieder auf eigenem Grund und Boden leben konnten. Für die ersten Familien war dies im September 1954 der Fall. Die Häuser sollten schlüsselfertig übergeben werden, richtig fertig waren sie aber noch lange nicht. Das fing schon beim Einzug an. Aufgeweichter, schlammiger Boden „empfing" die neuen Siedler. Die Anfahrt für Möbelwagen war schwierig. Eine Familie weiß zu berichten, daß ihr Wagen, der das Brennholz transportierte, im Schlamm stecken blieb und erst am nächsten Morgen mit Hilfe eines Pferdefuhrwerks aus dem Morast gezogen werden konnte. Auch in den Häusern gab es noch viel zu tun. Da wartete zum Beispiel der nur festgestampfte Erdboden im Keller auf Estrich. Die sparsame Ausstattung mit Heizmöglichkeiten entsprach dem Standard der damaligen Zeit: ein Ofen im Wohnzimmer, ein kleiner Herd in der Küche. Dazu kamen einige Anfangsschwierigkeiten, die in den betroffenen Familien wohl kaum in Vergessenheit geraten werden. Zum Beispiel der dicke Qualm aus dem Ofen, der anzeigte, daß der Kamin verstopft war, ebenso wie die falsch angeschlossenen Lichtschalter: Machte man im Keller Licht, ging es im Wohnzimmer an und umgekehrt. Es dauerte einige Zeit, bis die Neusiedler richtig heimisch geworden waren.

Die Nebenerwerbssiedlung heute!

Blick auf die Nebenerwerbssiedlung heute
(Foto. Stadtarchiv Schwalbach am Taunus)

Die Nebenerwerbssiedlung heute

Heute sind all die Unzulänglichkeiten aus den Anfängen der Neusiedlerzeit längst vergessen. Auch das äußere Erscheinungsbild zeigt, daß die Bewohner der Siedlung nicht mehr als Nebenerwerbslandwirte tätig sind. Viele der neuen Siedler von einst sind schon verstorben. Inzwischen wohnen dort die Kinder und Enkel und haben das Bild verändert. Um- und Anbauten, breite Einfahrten und Garagen sowie die weiterhin liebevoll gepflegten Gärten geben davon Zeugnis, daß hier eine neue Generation lebt.

Dennoch ist die Vergangenheit nicht vergessen, die Ursprünge sind noch lebendig. Auch die Straßenfeste zum 30- und 40-jährigen Bestehen der Nebenerwerbssiedlung, besonders das Fest zum 50-Jährigen im August 2004, bestätigen dies. Und so wird es auch wohl sein, wenn die Anwohner aus der Wald- und Breslauer Straße, deren Häuser 1957 fertiggestellt wurden, ihr 50-Jähriges im Jahr 2007 feiern.


Quellennachweis

    Flucht und Vertreibung, Aufnahme und Eingliederung der Vertriebenen im Main-Taunus-Kreis, Hofheim am Taunus 1990
    Reinhard A. Bölts, Modell einer Wohnstadt Schwalbach am Taunus, Frankfurt am Main 1975
    Heinz Aschenbrenner, 50 Jahre Nebenerwerbssiedlung Schwalbach am Taunus, Kronberg-Oberhöchstadt 2004
    Protokolle der Gemeindevertretung von Schwalbach am Taunus 1951-1953
    Magistrat der Stadt Schwalbach am Taunus, Alte Schwalbacher erzählen, Frankfurt am Main 1998

MTK-Jahrbuch 2007 - mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber

Mit bestem Dank an die Stadt Schwalbach für vielfältige Unterstützung.