Reichstagswahlen im Main-Taunus-Kreis während des Kaiserreiches (1871 - 1918)
DIETER REUSCHLING

Wenn man sich die politische Landschaft des Main-Taunus-Kreises während der letzten zwei bis drei Jahrzehnte betrachtet, kann man den Eindruck gewinnen, dass sich darin kaum etwas verändert. Eine klare Mehrheit der „bürgerlichen" Parteien, das heißt der CDU, der FDP und der „Freien Wähler", erscheint vorbestimmt. „Linke" Parteien wie SPD oder „Bündnis 90 / Die Grünen" haben kaum eine Chance für eine Mehrheit. Ein Rückblick auf die Geschichte aller demokratischen Wahlen in diesem Gebiet zeigt aber, dass es in der Vergangenheit große Veränderungen gegeben hat. Es lohnt sich deshalb, diesen Veränderungen nachzugehen. Wer kann sich heute noch vorstellen, dass bis 1887 liberale Parteien den Wahlkreis gewannen oder Kelkheim früher eine „rote" Hochburg war?

In diesem Beitrag wird für den Main-Taunus-Kreis versucht, im Sinne einer historischen Wahluntersuchung Wahlen und Wählerverhalten für die Zeit des Kaiserreiches von 1871 bis 1918 aufzuarbeiten. Der Beitrag beschränkt sich auf die Reichstagswahlen, weil deren Wahlergebnisse für alle Gemeinden des Kreises in den Veröffentlichungen von Thomas Klein (siehe Quellen) weitgehend aufbereitet vorliegen. Außerdem ähnelte das damalige Wahlrecht bei Reichstagswahlen dem heutigen noch am meisten. Da das Gebiet des heutigen Main-Taunus-Kreises seit 1866 zu Preußen gehörte, galt für Landtags- und Kommunalwahlen noch bis 1918 das preußische Drei-Klassen-Wahlrecht. Der Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen auf die Darstellung der Wahlergebnisse, der beteiligten Parteien und der Abgeordneten. Aus Raumgründen kann auf Wahlprogramme, Wahlkämpfe, Organisation der Parteien etc. nur am Rande eingegangen werden.

Die Randbedingungen

In der Folge des preußisch-österreichischen Krieges 1866 wurde 1867 der Norddeutsche Bund als Staatenbund aus Preußen und den mit ihm verbündeten norddeutschen Staaten gebildet. Seine Verfassung sah als Parlament den Reichstag vor, dessen Abgeordnete auf der Grundlage eines allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechtes der Männer gewählt wurden. Die Wahlen zum konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes fanden am 12. Februar 1867 statt, die Wahlen für die erste Legislaturperiode am 31. August 1867. In der Folge des deutsch-französischen Krieges 1870/71 wurde durch den Beitritt der süddeutschen Staaten zum Norddeutschen Bund das Deutsche Reich gegründet und der preußische König am 18. Januar 1871 zum deutschen Kaiser proklamiert. Die Verfassung des Norddeutschen Bundes wurde für das Deutsche Reich weitgehend übernommen. Am 3. März 1871 wurde in allen Teilstaaten des neuen Kaiserreiches der Reichstag gewählt, der zunächst aus 382 direkt gewählten Abgeordneten für 382 Wahlkreise bestand.

Die Abgeordneten wurden in ihren Wahlkreisen nach dem absoluten Mehrheitswahlrecht gewählt. Wenn die absolute Mehrheit im ersten Wahlgang nicht erreicht wurde, fand zwischen den beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen eine Stichwahl („engere Wahl") statt. Wenn ein gewählter Reichstagsabgeordneter sein Mandat niederlegte oder verstarb, fand in seinem Wahlkreis eine Ersatzwahl statt, so zum Beispiel im I. Nassauischen Wahlkreis 1885, als der Abgeordnete Karl Anton Mohr von der Deutschen Freisinnigen Partei ausschied. Als Nachfolger wurde Karl Körner von der gleichen Partei gewählt. Die Wahlperiode des Reichstages dauerte zunächst nur drei Jahre, ab 1893 fünf Jahre. Wahlberechtigt waren alle männlichen Deutschen im Alter von mindestens 25 Jahren. Die Wahlen fanden stets an Werktagen statt, in der Regel zwischen 10 und 18 Uhr.
Aufruf zu Wählerversammlungen

Anzeige aus:   Höchster Kreisblatt   vom 8 Februar 1890

Abhängig Beschäftigte waren also in der Ausübung ihres Wahlrechtes benachteiligt. In der preußischen Provinz Hessen-Nassau wurden im Bereich des früheren Herzogtums Nassau die Wahlkreise nach den zuletzt bestehenden Amtsbezirken des Herzogtums eingeteilt. Der I. Nassauische Wahlkreis bestand aus den Ämtern Hochheim, Höchst, Homburg, Idstein, Königstein und Usingen. Er erstreckte sich also von Süd nach Nord von der Main-Linie bis nach Brandoberndorf (heute ein Ortsteil von Waldsolms) und von West nach Ost von Wallrabenstein (heute ein Ortsteil von Hünstetten) bis nach Seulberg (heute ein Stadtteil von Friedrichsdorf) oder von der Mainebene bis in den Hintertaunus. In dieser Ausdehnung blieb der Reichstags-Wahlkreis bis 1933 erhalten Die Ortsteile des heutigen Main-Taunus-Kreises gehörten damals vorwiegend den Ämtern Höchst, Hochheim und Königstein an, nur Bremthal, Niederjosbach und Vockenhausen dem Amt Idstein. Von den Ämtern Homburg und Usingen sind keine Ortsteile auf den Main-Taunus-Kreis übergegangen. Bei der ersten Reichstagswahl 1867 gab es im I. Nassauischen Wahlkreis 21.775 wahlberechtigte Bürger, 1912 bei der letzten Wahl im Kaiserreich 51.803, das heißt, dass sich die Zahl der Wahlberechtigten in 45 Jahren um 239% gesteigert hatte. 1912 waren es im heutigen Main-Taunus-Kreis 11.566 Wahlberechtigte, das heißt 22,3% der Wahlberechtigten des Wahlkreises.

Die Wahlergebnisse der frühen Reichstagswahlen sind nicht umfassend dokumentiert und archiviert worden. Im Rahmen eines Forschungsprojektes der Universität Marburg (Prof. Dr. Thomas Klein) wurden sie so weit wie möglich aus vielen unterschiedlichen Quellen, häufig aus Zeitungsberichten, zusammengestellt. Von den Wahlen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes (1867 I und II) und zum gesamtdeutschen Reichstag 1871 und 1874 liegen nur die Gesamtergebnisse für die einzelnen Ämter und für den Wahlkreis vor. Erst ab der Reichtagswahl von 1877 konnten die Einzelergebnisse aller Gemeinden ermittelt werden. Deshalb kann die hier dargestellte Zusammenstellung der Wahlergebnisse für den Main-Taunus-Kreis erst von da an beginnen.

Die Parteienlandschaft

Von den Parteien, die sich bei den Reichstagswahlen im Kaiserreich zur Wahl stellten, besteht heute in gleicher Form außer der SPD keine mehr. Deshalb werden die wichtigsten dieser Parteien, die sich im betrachteten Wahlkreis zur Wahl stellten, kurz charakterisiert. Die liberale Bewegung war im Herzogtum Nassau und nach der Eingliederung Nassaus in Preußen auch in den späten 60er und frühen 70er Jahren die politisch stärkste Bewegung im Regierungsbezirk Wiesbaden. Allerdings erlebte sie wahrend der Zeit des Kaiserreiches viele Abspaltungen, Trennungen und Fusionen. Von der ursprünglichen liberalen, auch in Nassau starken „Deutschen Fortschrittspartei" spaltete sich nach dem Sieg Preußens über Österreich 1866 und der umstrittenen nachträglichen Bewilligung der Kriegskredite durch das preußische Parlament die rechtsliberale „National-liberale Partei" ab Sie wurde zur Partei des national eingestellten Besitz- und Bildungsbürgertums, die im Jahrzehnt nach der Reichsgründung stärkste Fraktion im Reichstag war, und die Politik des Reichskanzlers Bismarck unterstützte. Sie blieb, allerdings mit schwindendem Einfluß, bis zum Ende des Kaiserreiches im Reichstag präsent. Über den Konflikt wegen der Genehmigung von Schutzzöllen spaltete sich 1880 der linke Hügel der Nationalliberalen ab und stieß 1884 zur linksliberalen „Deutschen Freisinnigen Partei". Eine weitere linksliberale Partei wurde 1884 mit der „Freisinnigen Volkspartei" gegründet. Sie vereinigte sich 1910 mit zwei weiteren linksliberalen Parteien, der „Freisinnigen Vereinigung" und der „Deutschen Volkspartei" zur „Fortschrittlichen Volkspartei". Allen linksliberalen Parteien war gemeinsam, dass sie für die Interessen des Bürgertums, den Ausbau der politischen Freiheiten und der Rechte der Parlamente, für Freihandel und die Trennung von Staat und Kirche eintraten. Im I. Nassauischen Wahlkreis kandidierte die Nationalliberale Partei bei allen Reichstagswahlen, außer bei der Ersatzwahl 1885, bei der sie nicht gegen die Kandidaten der Deutschen Freisinnigen Partei und des Patriotischen Wahlvereins kandidierte. Die linksliberalen Parteien traten von 1867 bis 1912 nie gegeneinander an. Von 1871 bis 1881 kandidierte nur die „Deutsche Fortschrittspartei", von 1884 bis 1890 die „Deutsche Freisinnige Partei", 1893, 1898 und 1907 die „Freisinnige Volkspartei" und 1912 die „Fortschrittliche Volkspartei". Deshalb werden in der folgenden Darstellung aller Wahlergebnisse diese linksliberalen Parteien zur besseren Übersichtlichkeit zusammengefasst.
Abgeordnete des Reichstages 1867-1918

Die „Deutsche Zentrumspartei" („Zentrum") bildete sich im Winter 1870/71 im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus als katholische Fraktion, die sich entsprechend ihren Sitzplatzen im Parlament zwischen den konservativen Rechten und den liberalen Linken „Zentrum" nannte. Sie wollte im preußisch-protestantisch dominierten Reich die Selbständigkeit der katholischen Kirche bewahren und die Interessen der katholischen Bevölkerung vertreten. Im I. Nassauischen Wahlkreis mit einem hohen katholischen Bevölkerungsanteil kandidierte sie bei allen Reichstagswahlen.

Aus der Vereinigung des 1863 gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins" (ADAV) und der 1869 gegründeten „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei" (SDAP) ist 1875 die „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands" (SAP) entstanden, die sich ab dem Erfurter Parteitag 1891 „Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (SPD) nannte. Diese Arbeiterparteien wurden von Reichskanzler Bismarck und von den nationalen und bürgerliehen Parteien von Anfang an bekämpft. Zwei Attentate auf den Kaiser in der ersten Hälfte des Jahres 1878 nahm Bismarck zum Anlaß, Ausnahmegesetze gegen die Sozialdemokratie im Reichstag einzubringen, obwohl keinerlei Verbindung zwischen den Attentätern und der SAP bestand, und den Reichstag im Juni 1878 vorzeitig aufzulösen. In dem am 30. 7.1878 neu gewählten Reichstag wurde Bismarcks „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" mit den Stimmen von Konservativen und Nationalliberalen beschlossen, das erst vor der Reichstagswahl 1890 nicht mehr verlängert wurde. Die SAP und alle ihre Organisationen, ihre Presse und die von ihr aufgebauten Gewerkschaften wurden durch dieses Gesetz verboten, die Beteiligung an Wahlen blieb aber erlaubt. Dazu bildete die Partei so genannte Wahlvereine, die die Agitation und Organisation von Wahlkämpfen übernahm. Der für den Main-Taunus-Kreis damals zuständige SPD-Kreiswahlverein Höchst-Homburg-Usingen bestand bis zum Ersten Weltkrieg fort. Verschiedene, meist konservative Parteien kandidierten im I. Nassauischen Wahlkreis nur ein- oder zweimal, so die „Konservative Partei" (1867 und 1881), der „Patriotische Wahlverein" (1885), die „Partei der Antisemiten" (1893) und der „Bund der Landwirte" (1903 und 1912). Sie werden in der Darstellung der Wahlergebnisse unter „Sonstige" zusammengefaßt. Die „Partei der Antisemiten" - so etwas gab es schon lange vor der NSDAP - erhielt 1893 1,5% der Stimmen.

Die Reichstagsabgeordneten

Bei den insgesamt 16 Reichstagswahlen im I. Nassauischen Wahlkreis (einschließlich der zwei Wahlen 1867 zum Reichstag des Norddeutschen Bundes und der Ersatzwahl 1885) kam es in der Mehrzahl (bei zehn Wahlen) zu Stichwahlen zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten des ersten Wahlganges. In der Tabelle der Abgeordneten sind die gewählten Abgeordneten, ihre Parteizugehörigkeit und in der letzten Spalte die Partei des Gegenkandidaten in der Stichwahl zusammengestellt. Der bedeutendste Abgeordnete in dieser Reihe war zweifellos Dr. Adolf Brüning (* 1837, + 1884), der als Chemiker, Erfinder, Unternehmer, Wirtschafts- und Sozialpolitiker und als Verleger weit über Hessen-Nassau hinaus Einfluß gewann. 1862 nahm er das Angebot seines Studienfreundes Dr. Eugen Lucius an, zusammen mit ihm, C. F. W. Meister und A. Müller in Höchst eine Anilinfarbenfabrik zu gründen, deren technischer Direktor er zunächst wurde, ab 1867 auch Teilhaber der chemischen Fabrik, die sich jetzt „Meister, Lucius & Brüning" nannte. Nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft 1880 wurden daraus die Farbwerke Höchst. Als überzeugtes Mitglied der „Nationalliberalen Partei" unterstützte er die Politik Bismarcks und beriet ihn in sozialpolitischen Fragen, zum Beispiel bei der Einführung der Krankenversicherung im Reich 1883. Seine Partei unterstützte er finanziell großzügig und verschaffte ihr durch den Kauf der „Frankfurter Presse" 1876 und des „Frankfurter Journals" 1880 ein publizistisches Parteiorgan. 1883 wurde Adolf Brüning zum Dank für seine Verdienste in den erblichen preußischen Adelsstand erhoben. Das Reichstagsmandat konnte er 1874 und 1878 im ersten Wahlgang erringen, 1877 setzte er sich in der Stichwahl mit 56,6% gegen den Zentrumskandidaten Graf Adolf von Waldersdorff durch. Auch 1881 kandidierte er nochmals für die Nationalliberalen, kam aber im ersten Wahlgang hinter den Kandidaten der linksliberalen Fortschrittspartei und des Zentrums mit 14,8% der Stimmen nur noch auf den dritten Platz.
Adolf Brüning MdR

Reichstagsabgeordneter Adolf Brüning, Nationalliberale Partei.
(Foto aus Ernst Bäumler: Die Rotfabriker, München, Zürich 1988)

Friedrich Brühne MdR
Reichstagsabgeordneter Friedrich Brühne, SPD.
(Foto: privat)

Von 1881 bis 1887 und von 1890 bis 1893 vertraten linksliberale Abgeordnete den Wahlkreis im Reichstag. 1887 setzte sich mit Carl Wolf, katholischer Dekan des Dekanats Idstein, erstmals ein Zentrumskandidat in der Stichwahl durch. 1890 kam mit Friedrich Brühne erstmals ein Kandidat der SPD in die Stichwahl, die Carl Ludwig Funck für die linksliberale „Deutsche Freisinnige Partei" mit 63,5% der Stimmen gewann. Bei der nächsten Wahl 1893 setzte sich Brühne in der Stichwahl gegen den Kandidaten der Nationalliberalen mit 50,5% der Stimmen knapp durch, verlor aber 1898 die Stichwahl gegen den Kandidaten des Zentrums, Richard Müller, Unternehmer aus Fulda. 1903 war der Zentrumskandidat Peter M. Itschert (* 1860, + 1939), der von 1899 bis 1908 Amtsrichter in Frankfurt war, danach bis 1920 Landgerichtsdirektor in Berlin. Auch er gewann die Stichwahl gegen Brühne. Bei den Wahlen von 1907 und 1912 war Itschert wiederum in der Stichwahl der Gegenkandidat des SPD-Kandidaten Brühne, der dann aber mit 54,6% bzw. 58,8% der Stimmen jeweils klar gewann. Friedrich Brühne (* 1855, + 1928) stammte aus Bringhausen bei Bad Wildungen und hatte sich in Frankfurt als selbstständiger Schuhmachermeister niedergelassen. Er schloß sich 1876 der Sozialdemokratie an und übernahm noch während der Zeit des Sozialistengesetzes 1889 für sie die Agitation im I. Nassauischen Wahlkreis. Seine später wachsende Volkstümlichkeit trug ihm den Beinamen "der rote Schuster" ein. Als SPD-Kandidat hatte er schon bei der ersten Stichwahl 1890 alle bürgerlichen Parteien gegen sich: sowohl das Zentrum als auch die Nationalliberalen riefen ihre Wähler dazu auf, den Kandidaten der Freisinnigen Partei C. L. Funck zu wählen. Auch bei den späteren Reichstagswahlen änderte sich diese Wahltaktik nicht. Die bürgerlichen Parteien und die bürgerliche Presse kämpften gemeinsam gegen die Sozialdemokratie. Den Geist der Auseinandersetzung macht ein Zitat aus dem Leitartikel („Gegen die Sozialdemokratie") des „Höchster Kreisblattes" zur Stichwahl zwischen Brühne und dem Zentrumskandidaten Itschert am 5. Februar 1907 deutlich: „Alle Parteieninteressen müssen jetzt dort schwinden, wo es in der Stichwahl um einen Kampf zwischen Bürgertum und Sozialdemokratie geht." Und später: „..die zweite Schlacht gilt dem gemeinsamen Feinde, dem Feinde auch der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung, der mit brutaler Rücksichtslosigkeit alles, was zu den Ordnungsparteien zählt, herunterreißt; der alles, was anderen hehr und heilig ist, in den Schmutz zieht und besudelt."

Friedrich Brühne gewann die Stichwahl 1907. Er war von 1893-1897 und von 1907- 1918 Mitglied des Reichstages, vertrat also den I. Nassauischen Wahlkreis von allen hier gewählten Abgeordneten am längsten. 1919/20 wurde er Mitglied der Nationalversammlung in Weimar.

Die Wahlergebnisse

Die Entwicklung der Mehrheitsverhältnisse im Reichstagswahlkreis läßt sich am besten durch die Veränderungen der prozentualen Stimmanteile im ersten Wahlgang darstellen, die von 1867 bis 1912 vorliegen. Die folgende Grafik 1 zeigt, daß die liberalen Parteien bis 1887 klar dominierten. Bis 1877 kandidierten sie nicht gegeneinander; entsprechend gewann 1871 der Kandidat der Deutschen Fortschrittspartei, Adolph Klotz, den Wahlkreis, 1874 der Kandidat der Nationalliberalen, Dr. Adolf Brüning. Er behauptete sich auch noch 1877 gegen das Zentrum, als die Deutsche Fortschrittspartei einen eigenen Kandidaten aufgestellt hatte. Von da an kandidierte bei allen Wahlen außer 1903 neben den Nationalliberalen auch eine linksliberale Partei. Ihre Kandidaten gewannen das Wahlkreismandat 1881,1884,1885 und 1890.
Wahlergebnisse des vollständigen I. Nassauischen Wahlkreises

Von 1871 bis 1887 war das Zentrum der stärkste Gegenspieler gegenüber den liberalen Parteien; ihr Kandidat Carl Wolf gewann 1887 erstmals den Wahlkreis für das Zentrum. Der Stimmenanteil des Zentrums zeigt für den Wahlkreis während des Kaiserreiches die größte Konstanz; er bewegte sich zwischen 39,5% 1871 und 21,7% 1912. Der klare Aufsteiger im Wahlkreis war die SPD, die von 1877 bis 1912 ihren Stimmanteil stetig von 3,7% bis auf 47,2% erhöhen konnte. Von 1877 an sind die Wahlergebnisse für den Main-Taunus-Kreis in seiner heutigen Ausdehnung in der Grafik 2 dargestellt. Gegenüber den Ergebnissen im vollständigen I. Nassauischen Wahlkreis ergeben sich graduelle Unterschiede. So liegt der Stimmanteil des Zentrums hier konstant höher als im vollständigen Wahlkreis, zum Beispiel 1877 bei 48,7% gegenüber 39,5% und 1912 bei 29,1% gegenüber 21,7%. Dies ist auf den höheren Anteil der katholischen Bevölkerung im Kreis zurückzuführen; er lag 1899 bei 62% gegenüber 37% Evangelischen. Auch die Stimmanteile der SPD sind im Main-Taunus-Kreis mit 2% bis 5% konstant höher als im vollständigen Wahlkreis, erklärbar durch den höheren Anteil von Arbeitnehmern in Gewerbe und Industrie.
Wahlergebnisse im heutigen Main-Taunus-Kreis 1877-1912

Der konfessionelle Einfluß ist bei den Reichstagswahlen deutlicher als heute nachweisbar, allerdings mehr in negativer Form. In den überwiegend evangelischen Gemeinden des Kreises, zum Beispiel denen des „Ländchens" von Massenheim bis Wildsachsen, hatte das katholische Zentrum kaum Chancen, Stimmen zu bekommen. In den 11 Gemeinden des Kreises (von insgesamt 36), in denen der katholische Bevölkerungsanteil 1899 nur zwischen 2% und 16% lag, erreichte das Zentrum bei allen Wahlen seit 1877 nie mehr als 2,2% der Stimmen. Dagegen hatte das Zentrum in den Gemeinden mit überwiegend katholischem Bevölkerungsanteil (19 von 36) bis 1907 Stimmenanteile von 49% bis 79%. Wesentlich geringer als vermutet war der konfessionelle Einfluß auf die Wahlergebnisse der SPD. Beispielhaft werden in der Grafik 3 die Wahlergebnisse von allen Gemeinden des heutigen Kelkheim gezeigt, die 1899 alle einen überwiegend katholischen Bevölkerungsanteil hatten (95%). Trotz der Stärke des Zentrums war der Aufschwung der SPD bis auf 60% der Stimmen (1907) in der damaligen Arbeiterwohngemeinde nicht aufzuhalten.
Wahlergebnisse im heutigen Kelkheim 1877-1912

In den 51 Jahren des Reichstages im Kaiserreich stellten im I. Nassauischen Wahlkreis die Nationalliberalen 14,1 Jahre, die linksliberalen Parteien 8,7 Jahre, das Zentrum 11,6 Jahre und die SPD 16,8 Jahre den Reichstagsabgeordneten. Mit 16,8 Jahren war der Schuhmacher Friedrich Brühne von der SPD am längsten der Abgeordnete für diesen Wahlkreis, gefolgt von dem nationalliberalen Unternehmer Dr. Adolf Brüning mit 7,7 Jahren.

Quellen:

  • Burkhardt, Barbara u. Pult, Manfred: Nassauische Parlamentarier.  Ein biographisches Handbuch, Teil 2: Der Kommunallandtag des RP Wiesbaden 1868-1933. Wiesbaden, 2003
  • Haunfelder, Bernd: Reichstagsabgeordnete der Deutschen Zentrumspartei 1871-1933. Biographisches Handbuch. Düsseldorf, 1999.
  • Klein, Thomas: Die Hessen als Reichstagswähler. Tabellenwerk zur politischen Landesgeschichte 1867-1933. Band 1: Provinz Hessen-Nassau und Waldeck-Pyrmont 1867-1918. Hrsg.: Historische Kommission für Hessen, Marburg. Marburg, 1989
  • Klein, Thomas: Parteien und Wahlen in der preußischen Provinz Hessen-Nassau 1867-1933. In: D. Berg-Schlosser, A. Fack, T. Noetzel: Parteien und Wahlen in Hessen 1964-1994. Marburg, 1994. Seiten 12-33.
  • Klötzer, Wolfgang (Hrsgb.): Frankfurter Biographie. Personengeschichtliches Lexikon. Frankfurt, 1994.
  • Lebendiges virtuelles Museum Online: Deutsche Geschichte im Internet. Deutsches Historisches Museum (Berlin) u. a., www.dhm.de/lemo/, Stand 2005
  • Liebert, Bernd: Politische Wahlen in Wiesbaden im Kaiserreich. Wiesbaden, 1988
  • Lösche, Peter: Kleine Geschichte der deutschen Parteien. Stuttgart, Berlin, Köln,1993
  • Renkhoff, Otto: Nassauische Biographie. 2. Aufl., Wiesbaden, 1992
  • Schröder, Wilhelm Heinz: Sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete und Reichstagskandidaten 1898-1918. Bibliographisch-statistisches Handbuch. Düsseldorf, 1986

Zeitungen: Höchster Kreisblatt

MTK-Jahrbuch 2006 - mit freundlicher Erlaubnis der Herausgeber