Ein britisches Flugblatt aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Kriegsgefangener aus Höchst am Main schreibt seiner Frau
Von Gerhard Raiss

Im Laufe des Ersten Weltkrieges entwickelte sich eine besondere Art der Propaganda, die sogenannte Flugblattpropaganda Dem Kriegsgegner gedruckte oder bebilderte Botschaften zuzustellen und ihn auf diese Weise psychologisch zu beeinflussen, ist eine Methode, die ihre Anfänge schon in der Zeit der Französischen Revolution findet. Besonders bekannt sind solche Flugblätter aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg oder der deutschen Belagerung von Paris 1870.

Während des Ersten Weltkrieges gelangte man im britischen „Foreign Office" (Außenministerium) zur Auffassung, daß regierungs-amtliche Propaganda nutzlos sei, wenn sie als solche vom Feind erkannt wurde, ausgenommen natürlich die Form der amtlichen Veröffentlichungen. Im Krieg zählen nur Tatsachen, nicht Worte. Propaganda kann lediglich dadurch wirken, daß der Gegner weiß, was sich tatsachlich ereignet hat. Aus dieser Situation entwickelte die englische Flugblattpropaganda etwa seit Ende 1916 eine verblüffend einfache und wirkungsvolle Art, die deutschen Gegner zu beeinflussen. Man wählte unter der Vielzahl der von deutschen Kriegsgefangenen in englischem Gewahrsam an ihre Angehörigen zu Hause geschickten privaten Briefe und Feldpostkarten eine Anzahl aus, die ohne jede Veränderung oder Zusätze so im Originalzustand belassen und tausendfach vervielfältigt über den deutschen Stellungen in Frankreich und Belgien mit Hilfe von Flugzeugen oder Ballonen abgeworfen wurden.

Bei der Auswahl der zu verbreitenden Kriegsgefangenenbriefe und Postkarten wählte man offenbar nach zwei Kriterien aus. Einmal sollte für die Finder, deutsche Soldaten an der Front, offensichtlich die gute Behandlung der Kriegsgefangenen in den britischen Lagern deutlich erkennbar werden. Zweitens wählte man fast ausschließlich Schreiben einfacher Soldaten, die ihre alltäglichen Beobachtungen, Sorgen und Wünsche an ihre Angehörigen mitteilten.

An erster Stelle stand hier das Bemühen um Glaubwürdigkeit. Es fehlen Übertreibungen und Polemik jedweder Art.

Der hier vorgestellte Brief1) stammt von dem deutschen Unteroffizier Karl Dick und trägt das Datum vom 19. l.1918. Dick befindet sich zu dieser Zeit in der ,,76 Prisonier of War Compagnig" in britischem Gewahrsam. Innerhalb dieser Kriegsgefangeneneinheit hat Dick die Nr. 540, die er auch mit allen anderen Angaben auf dem Absender vermerkt.Britisches Flugblatt 1918

Der Brief ist an seine Ehefrau Käthe Dick, wohnhaft in Höchst am Main, Provinz Hessen-Nassau, Königsteiner Str. 180, gerichtet. Es ist ein Faltbrief mit den Maßen 16 x 35 cm. Der Aufdruck ,,By Ballon Durch Luftballon" zeigt die Art seiner Verbreitung an. Er wurde über den deutschen Linien abgeworfen. Die Auflage betrug nach englischen Angaben 5000 Stück. Der Brief war mit einem Code-Zeichen versehen, welches B/5 lautete und internen britischen Zwecken diente.

Es ist uns nicht bekannt, ob Karl Dick von der Verbreitung seines Privatbriefes als Flugblatt wußte. Ebenso fehlt uns das Wissen um den Erfolg und um die Wirkung, die dieses Flugblatt bei den deutschen Soldaten hatte. Die Absicht der Engländer mit dieser Art Flugblättern laßt sich noch einmal mit Campbell Stuart ausdrücken, der meinte2) „Eine Absicht, die mit der Flugblattverbreitung verfolgt wurde, war es, den deutschen Soldaten ihren Irrglauben zu nehmen, die Briten und Franzosen würden ihre Gefangenen sehr hart behandeln." Leider gibt es keine Untersuchungen über die psychologische Tiefenwirkung solcher Flugblattpropaganda auf die deutschen Soldaten.

Übertragung des handschriftlichen Textes auf der Innenseite des Faltbriefes:

Meine herzliebe, gute Käthe     19.1.18 Britisches Flugblatt 1918

Heute schreibe ich Dir meinen 12. Brief, ohne daß ich nach Sehnen + Harren ein Lebenszeichen von Dir habe. Ich denke, daß Du nun Aufklärung über meinen Verbleib haben wirst. Wie schrecklich muß doch das Wort „Vermißt" sein. Gott hat über uns gewacht. Mir geht es Gottseidank recht gut. Ich kann Dir zu deiner + meiner Freude sagen, daß ich im neuen Jahr noch keinen trüben Tag hatte. Mir geht es besser wie Ihr denken werdet. Die Behandlung in engl. Gefangenschaft verkennt man am heimatlichen Herd. Unser Komp.Führer ist ein netter ruhiger Mensch. Die Verpflegung ist wirklich gut. Nur mit dem Brot muß man sparsam wirtschaften, dafür bekommen wir aber Zwieback, womit man sehr gut auskommen kann.  Mache Dir keine Sorgen mein Lieb. Hunger brauche ich nicht zu leiden, und frieren thue ich auch nicht. Allerdings wären wir alle froh, wenn der Mist ein Ende hätte, denn 6 Jahre Soldat ist schlimm.
Herzl. Kuss
Dein Karl

Anmerkungen

Für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung und für Hinweise habe ich Herrn Klaus Kirchner, Erlangen, und der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz in Berlin zu danken.

Das veröffentlichte Flugblatt befindet sich in der Sammlung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, und trägt die Signatur: Einbl . 1914/18, 4415 502- Dec

1 Klaus Kirchner, Flugblatt-Propaganda im l. Weltkrieg. Flugblätter aus England 1914 bis 1918, Band l, Erlangen 1985, S. 162

2 Campbell Stuart, Secrets of Crewe House. The Story of a Famous Campaign. London 1920, S. 52/53.

Rad und Sparren - 1987 -15 - mit freundlicher Erlaubnis des Herausgebers