Pro Woche gab’s 1945 125 Gramm Fleisch
Andrea Senze-Kiko

Niederhöchstadt. Nur noch wenige Niederhöchstädter werden sich an die alte Bürgermeisterei in der Mühlstraße erinnern. Bevor 1953 das ehemalige Rathaus und die jetzige Bücherei an der Kreuzung Hauptstraße/Steinbacher Straße gebaut worden ist, hat der Niederhöchstädter Bürgermeister seinen Amtssitz im Privathaus der Familie Leifheit gehabt.

Es hat weder Internet noch Telefon gegeben, und viele Familien haben insbesondere in der direkten Nachkriegszeit auch nicht regelmäßig eine Zeitung bezogen. So hat sich der Bürgermeister behelfen müssen, wenn er Wichtiges mitteilen wollte und seine Bekanntmachungen vor der Bürgermeisterei in einem Schaukasten ausgehängt.

Gerhard Raiss, der Eschborner Stadtarchivar, hat viele dieser amtlichen Bekanntmachungen aufgehoben, ausgewertet und jetzt dem Höchster Kreisblatt zur Veröffentlichung vorgelegt.

Insbesondere die vergilbten, brüchigen, stark holzhaltigen Papiere aus den ersten Wochen und Monaten nach dem Zweiten Weltkrieg haben es Raiss angetan. Diese Unterlagen geben einen guten Einblick in das damalige Leben in Niederhöchstadt. Am 29. März 1945 marschieren die Amerikaner in Niederhöchstadt ein und beenden die NS-Herrschaft. „Nun kam die Zeit der Militärbesatzung und der Zwangsbewirtschaftung, man konnte nichts frei kaufen“, sagt der Archivar. Und er führt aus: „Direkt nach dem Krieg ist alles knapp gewesen, Niederhöchstadt hat allein aus Frankfurt über 100 Evakuierte aufnehmen müssen. Waren sind nur auf Karten und Zuteilung erhältlich gewesen, und auch räumlich ist es eng geworden.“

Doch an erster Stelle steht für die amerikanische Besatzung nicht die Versorgung der Bevölkerung, sondern die Sicherung der öffentlichen Ruhe und Ordnung nach einem ungekannt brutalen Krieg. So heißt es in der ersten Bekanntmachung vom 21. April 1945: „Die Ausgangszeit wurde von der Militärbehörde ab sofort von 7 Uhr morgens bis 20 Uhr (8) abends festgesetzt. Die Einwohner werden ersucht, sich streng an diese Ausgangszeit zu halten.“ Weiter schreiben die amerikanischen Militärs in der Bekanntmachung vor: „Betreff: Restlose Auslieferung aller Waffen (. . . .) Einwohner, bei denen bei eventuell später stattfindenden Haussuchungen noch Waffen gefunden werden, werden vor ein Kriegsgericht gestellt.“ Unterschrieben sind diese Bekanntmachungen lediglich mit dem Zusatz: „Der Bürgermeister“ – ein Name steht nicht dabei. Der Grund dafür wird die grundsätzlich sofortige Entmachtung der NS-Bürgermeister gewesen sein.

Der neue Bürgermeister Willi Bauer wird erst am 22. Mai 1945 durch die Besatzer berufen. „Damals hat man jemanden gesucht, der bekanntermaßen antifaschistisch gewesen ist und lesen und schreiben konnte und diesen Mann quasi auf Zuruf zum Bürgermeister gemacht“, erläutert Raiss. Bürgermeister Bauer und seine Beiräte Karl Brendel, Wilhelm Achenbach und Ferdinand Haber jr. mußten ihren Niederhöchstädtern gegenüber – trotz aller Not – Härte beweisen, legt man den Text der Bekanntmachung vom 30. Mai 1945 zu Grunde: „Ich mache darauf aufmerksam, daß jeder Diebstahl von den alliierten Militärbehörden als Plünderung ausgelegt wird und dem entsprechend bestraft wird. ( . . . ) Willi Bauer, der Bürgermeister.“

Doch der Hunger ist groß gewesen. So geht aus einer Bekanntmachung vom 16. Juni 1945 hervor, daß Erwachsene pro Woche lediglich 1000 Gramm Brot und 125 Gramm Fleisch bei der Lebensmittelabgabe zustehen. Selbstversorger erhalten nichts. Doch der Hunger zwingt die Niederhöchstädter, oft von den Feldern der ansässigen Bauern zu stehlen, trotz der angedrohten Strafen. Dies geht aus der Bekanntmachung „Felddiebstähle“ vom 2. Juli 1945 hervor. Dort wird es den Niederhöchstädtern verboten, die Gemarkung nach 21 Uhr zu betreten. Nur Feldhüter haben Zutritt.

Aber mit der Erntezeit scheint der größte Hunger und das schlimmste Chaos vorbei zu sein. Der Ton auf den Blättern im Aushangkasten wird weniger streng. Es werden Regeln für Hausschlachtungen aufgestellt, der Bürgermeister wünscht seinen Niederhöchstädtern ein gutes neues Jahr, und eine Dame, die ihren Wollhandschuh verloren hat, bittet den Finder, ihn gegen gute Belohnung zurückzugeben. Und mit dem neuen Jahr zieht der Nachkriegsalltag ein. Im August 1946 wird die Sperrstunde im Vergleich zum unmittelbaren Kriegsende auffallend gekürzt. Nun dürfen sich die Niederhöchstädter schon zwischen 5 Uhr und Mitternacht draußen aufhalten, und man findet die Zeit, Sprechstunden für die vielen Flüchtlinge einzurichten. Und wer sich schon ein wenig Kultur gönnen möchte, wird sich über die folgende Bekanntmachung gefreut haben: „Frau Else Schulz erteilt gründlichen Violin- und Klavierunterricht.“

Höchster Kreisblatt - 22.08.2006 - mit freundlicher Erlaubnis des Höchster Kreisblattes